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Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht
Autoren: D Harkness
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die vor mir liegende Arbeit konzentriert, statt im Nachhinein über den eigentümlichen Illustrationen und dem mysteriösen Palimpsest in Ashmole 782 zu brüten. Jetzt warf ich einen kurzen Blick auf meine Nachbereitungsliste. Von den vier Fragen, die sich heute im Laufe des Tages ergeben hatten, war die dritte am einfachsten zu beantworten. Die Antwort musste in einem obskuren Journal mit dem Titel Notes and Queries zu finden sein, und dieses Journal stand frei zugänglich in einem der Regale, die sich der hohen Decke im Raum entgegenreckten. Ich schob den Stuhl zurück und beschloss, wenigstens diesen Punkt auf meiner Liste abzuhaken, bevor ich für heute Schluss machte.
    Die oberen Regale im Selden End waren über eine durchgetretene Treppe zu erreichen, die auf eine Galerie mit Blick auf die Lesetische führte. Ich erklomm die krummen Stufen und stand bald vor den Regalfächern, in denen streng chronologisch geordnet die alten, mit Buchleinen bezogenen Bände standen. Niemand außer mir und einem betagten Professor der Alten Literatur aus dem Magdalen College
schien sie je zu konsultieren. Ich entdeckte den gesuchten Band und fluchte leise. Er stand im obersten Fach, knapp außerhalb meiner Reichweite.
    Ein leises Lachen ließ mich aufhorchen. Ich drehte mich um, weil ich sehen wollte, wer an dem Lesetisch am anderen Ende der Galerie saß, aber dort war niemand. Ich hörte schon wieder Gespenster. Oxford war immer noch mehr oder weniger verwaist, und alle Universitätsangestellten waren vor einer Stunde abgezogen, um sich vor dem Abendessen im Gemeinschaftsraum des Lehrpersonals ein Gratisglas Sherry zu genehmigen. Nachdem heute ein hoher Wicca-Feiertag war, war sogar Gillian am Spätnachmittag entschwunden, allerdings nicht, ohne mich ein letztes Mal zu ihrem Treffen einzuladen und dabei einen scheelen Blick auf meinen Stapel mit Lesematerial zu werfen.
    Ich suchte nach der Trittleiter, die eigentlich auf der Galerie stehen sollte, aber die war nirgendwo zu sehen. In der Bodleian fehlte es immer an solchen Dingen, und es konnte leicht sein, dass ich fünfzehn Minuten brauchen würde, um in der Bibliothek eine Trittleiter aufzutreiben und sie nach oben zu schleppen, nur damit ich den Band aus dem Regalfach holen konnte. Ich zögerte. Am Freitag hatte ich ein verhextes Buch in der Hand gehalten und trotzdem der Versuchung widerstanden, Magie anzuwenden. Außerdem würde mich niemand sehen.
    Trotz meiner Rechtfertigungsversuche spürte ich ein nervöses Kribbeln. Ich brach meine Regeln nur selten und vermerkte akribisch im Geiste sämtliche Situationen, in denen ich mich verleiten ließ, auf Magie zurückzugreifen. Dies wäre das fünfte Mal in diesem Jahr, den Reparaturzauber an der kaputten Waschmaschine und die Berührung von Ashmole 782 eingeschlossen. Nicht allzu schlecht für einen September, aber auch keine persönliche Bestleistung.
    Ich holte tief Luft, hob die Hand und stellte mir das Buch darin vor.
    Band 19 der Notes and Queries rutschte langsam aus dem Fach, kippte dann nach hinten, als würde er von unsichtbaren Fingern heruntergezogen, und fiel dumpf in meine offene Hand. Dort öffnete er sich von selbst auf der gesuchten Seite.

    Der ganze Vorgang hatte knapp drei Sekunden gedauert. Ich atmete tief aus, um mein schlechtes Gewissen zu besänftigen. Im selben Moment erblühten zwei eisige Flecken zwischen meinen Schulterblättern.
    Ich war beobachtet worden, und nicht von einem gewöhnlichen Menschen.
    Wenn eine Hexe eine andere beobachtet, löst ihr Blick ein Kribbeln aus. Allerdings sind Hexen nicht die einzigen Geschöpfe, die neben den Menschen die Erde bevölkern. Es gibt auch Dämonen  – kreative, künstlerische Kreaturen, die stets zwischen Genie und Wahnsinn balancieren. Als »Rockstars und Serienmörder« beschrieb meine Tante diese befremdlichen, faszinierenden Wesen. Und es gibt die Vampire, uralt und wunderschön, die sich von Blut ernähren und dich mit ihrem Charme betören, wenn sie dich nicht vorher töten.
    Wenn ein Dämon mich anblickt, spüre ich einen dezenten, verunsichernden Druck wie von einem Kuss.
    Doch wenn ein Vampir mich fixiert, fühlt sich das kalt, konzentriert und gefährlich an.
    Ich ging im Geist alle Besucher im Duke-Humfrey-Lesesaal durch. An einen einzigen Vampir konnte ich mich erinnern, ein cherubinischer Mönch, der sich wie ein Liebhaber in mittelalterliche Mess- und Gebetsbücher versenkt hatte. Aber Vampire sind in Bibliothekssälen mit alten Büchern nur
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