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Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht
Autoren: D Harkness
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Papyrusfetzen zu brüten. Ich versuchte, jeden Blickkontakt zu vermeiden, als ich an ihr vorbeihuschte, doch das Quietschen der alten Dielen verriet mich.
    Meine Haut kribbelte, so wie immer, wenn mich eine andere Hexe ansah.
    »Diana?«, rief sie aus dem Halbdunkel. Ich erstickte ein Seufzen und blieb stehen.
    »Hi, Gillian.« Ich wusste selbst nicht, warum ich so eifersüchtig über meinen Handschriftenstapel wachte, aber ich blieb so weit wie möglich von der Hexe entfernt stehen und drehte den Oberkörper weg, damit sie meine Schätze nicht zu sehen bekam.
    »Was machst du an Mabon?« Gillian kam bei jeder Gelegenheit an meinen Lesetisch und forderte mich auf, Zeit mit meinen »Schwestern« zu verbringen, solange ich in der Stadt war. Nachdem es nur noch ein paar Tage bis zur Wicca-Feier, der herbstlichen Tagundnachtgleiche, waren, verdoppelte sie zurzeit ihre Bemühungen, mich in den hiesigen Hexenkonvent zu locken.
    »Arbeiten«, erwiderte ich.
    »Es gibt hier ein paar ausgesprochen nette Hexen, weißt du?«, sagte Gillian tadelnd. »Du solltest am Montag wirklich vorbeikommen.«
    »Danke. Ich werde es mir überlegen«, sagte ich und war schon wieder auf dem Weg zum Selden End, einem luftigen Anbau aus dem siebzehnten Jahrhundert, der quer zur Hauptachse des Duke-Humfrey-Lesesaales
verlief. »Allerdings muss ich noch einen Vortrag für eine Konferenz fertigstellen, also zähl lieber nicht auf mich.« Meine Tante Sarah hatte mich oft gewarnt, dass Hexen einander nicht belügen können, aber das hatte mich nicht davon abgehalten, es immer wieder zu versuchen.
    Gillian gab ein mitfühlendes Brummen von sich, aber ich spürte ihren Blick im Rücken.
    An meinem angestammten Arbeitsplatz, gegenüber den Bleiglasfenstern, konnte ich nur mit Mühe der Versuchung widerstehen, die Handschriften auf den Tisch fallen zu lassen und mir sofort die Hände abzuwischen. Stattdessen setzte ich den Stapel so behutsam ab, wie es seinem Alter gebührte.
    Das Manuskript, das den Ausleihzettel so widerwillig herausgerückt hatte, lag obenauf. Auf dem Buchrücken war das goldene Wappen Elias Ashmoles eingeprägt, eines Schriftensammlers und Alchemisten aus dem siebzehnten Jahrhundert, dessen Bücher und Papiere, darunter auch die Nummer 782, im neunzehnten Jahrhundert vom Ashmolean Museum in die Bodleian Library überführt worden waren. Argwöhnisch berührte ich das braune Leder.
    Ein leichter Schlag ließ mich zurückzucken, allerdings nicht schnell genug. Das Kribbeln kroch an meinen Armen aufwärts und richtete dabei sämtliche Härchen auf, dann breitete es sich über meine Schultern aus und verhärtete meine Hals- und Rückenmuskeln. Das Kribbeln legte sich bald wieder, aber zurück blieb ein Gefühl wie dumpfe unerwiderte Begierde. Erschrocken über meine Reaktion trat ich einen Schritt zurück.
    Selbst aus dieser Entfernung provozierte mich das Manuskript  – als stellte es einen Angriff auf den Schutzwall dar, den ich zwischen meine wissenschaftlichen Leistungen als Historikerin und mein Geburtsrecht als letzte Hexe aus dem Geschlecht der Bishops errichtet hatte. Nachdem ich mir mühsam einen Doktortitel und eine Festanstellung mitsamt Lehrauftrag erarbeitet hatte und meine Karriere jetzt allmählich in Schwung kam, hatte ich dem Erbe meiner Familie abgeschworen und mir ein Leben geschaffen, in dem allein Vernunft und wissenschaftliche
Fakten zählten, nicht mysteriöse Ahnungen oder Zauberei. Ich war in Oxford, um ein Forschungsprojekt zu Ende zu bringen. Sobald ich es abgeschlossen hatte, würden meine Befunde veröffentlicht und anschließend meinen menschlichen Kollegen präsentiert werden, wobei keinerlei Raum für Mysterien oder andere Dinge bleiben würde, die man nur mit dem sechsten Sinn einer Hexe erfassen kann.
    Nun jedoch hatte ich  – wenn auch ungewollt  – eine alchemistische Handschrift aus dem Archiv angefordert, die ich für meine Recherchen brauchte und die gleichzeitig eine übernatürliche Macht zu besitzen schien, die ich nicht ignorieren konnte. Es juckte mich in den Fingern, das Manuskript aufzuschlagen und mehr zu erfahren. Doch ein noch stärkerer Impuls hielt mich zurück: War meine Neugier allein intellektuell und durch wissenschaftlichen Forscherdrang begründet?
    Ich atmete tief die Bibliotheksluft ein, schloss die Augen und hoffte, dass ich dadurch klarer sehen würde. Die Bodleian Library war mir immer ein Zufluchtsort gewesen, ein Platz, der nicht das Geringste mit den Bishops zu tun
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