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Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht
Autoren: D Harkness
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hatte. Die zitternden Hände unter die Achseln geklemmt, starrte ich im trüber werdenden Abendlicht auf Ashmole 782 und überlegte, was ich jetzt tun sollte.
    Meine Mutter hätte instinktiv gewusst, was zu tun war. Die meisten Bishops waren talentierte Hexen und Hexer, aber meine Mutter Rebecca war etwas ganz Besonderes gewesen. Das sagten alle. Ihre übernatürlichen Fähigkeiten hatten sich früh gezeigt, und schon in der Grundschule hatte sie mit ihrem intuitiven Verständnis für alle Hexensprüche, ihren verblüffenden Vorahnungen und ihrer unheimlichen Begabung, Menschen und Ereignisse zu durchschauen, die meisten älteren Hexen im örtlichen Hexenkonvent ausgestochen. Meine Tante Sarah, die jüngere Schwester meiner Mutter, war ebenfalls eine begabte Hexe, aber ihre Talente waren nichts Ungewöhnliches: Geschick beim Mischen der verschiedenen Zaubermittel und die perfekte Beherrschung der überlieferten Sprüche und Beschwörungen.
    Natürlich wussten meine Historikerkollegen nichts von meiner Familie, aber in Madison, der abgelegenen Kleinstadt im Staat New York, wo ich seit meinem siebten Geburtstag bei meiner Tante Sarah gelebt
hatte, kannte wirklich jeder die Bishops. Nach dem Revolutionskrieg waren meine Vorfahren von Massachusetts dorthin gezogen. Damals waren schon über hundert Jahre vergangen, seit man Bridget Bishop in Salem hingerichtet hatte. Trotzdem war meinen Vorfahren das Gemunkel und Getuschel in die neue Heimat nachgefolgt, woraufhin sie sich nach Kräften bemüht hatten, allen zu demonstrieren, wie praktisch es sein konnte, in der Nachbarschaft Hexen zu haben, die Kranke heilen und das Wetter vorhersagen konnten. Im Lauf der Zeit hatten die Bishops so tiefe Wurzeln in der Gemeinschaft geschlagen, dass sie all die unausweichlichen Ausbrüche von Hysterie und menschlichem Aberglauben überstanden hatten.
    Doch meine Mutter war von einer unstillbaren Neugier auf die Welt getrieben, die sie aus dem sicheren Madison herausgeführt hatte. Erst ging sie nach Harvard, wo sie einen jungen Hexer namens Stephen Proctor kennenlernte, der sich genau wie sie danach sehnte, dem Dunstkreis seiner Familie zu entkommen, die auf eine lange Geschichte in Neuengland zurückblicken konnte. Rebecca Bishop und Stephen Proctor waren ein charmantes Paar, auch weil die typisch amerikanische Offenheit meiner Mutter die eher altmodische Förmlichkeit meines Vaters kontrastierte. Beide studierten Anthropologie, tauchten in fremde Kulturen und Religionen ein und waren nicht nur durch ihre innige Liebe verbunden, sondern auch durch ihre intellektuelle Leidenschaft. Nachdem beide an einer Universität in der Gegend eine Anstellung gefunden hatten  – meine Mutter an ihrer Alma Mater, mein Vater in Wellesley  –, unternahmen sie gemeinsam Forschungsreisen ins Ausland und schufen in Cambridge ein Heim für ihre neue Familie.
    Ich habe nur wenige Erinnerungen an meine Kindheit, aber jede einzelne davon ist mir lebendig und überraschend deutlich im Gedächtnis. Alle drehen sich um meine Eltern: Wie sich der Cord am Ellbogen meines Vaters anfühlte, wie das Maiglöckchenparfüm meiner Mutter duftete, wie ihre Weingläser klirrten, wenn die beiden anstießen, nachdem sie mich zu Bett gebracht hatten, um danach bei Kerzenlicht zu Abend zu essen. Meine Mutter erzählte mir Gutenachtgeschichten, und die braune Aktentasche meines Vaters klapperte,
wenn er sie an der Haustür fallen ließ. Mit diesen Erinnerungen könnten sich die meisten Menschen identifizieren.
    Mit anderen Erinnerungen an meine Eltern eher nicht. Zum Beispiel kann ich mich nicht entsinnen, dass meine Mutter je Wäsche gewaschen hätte, trotzdem waren meine Anziehsachen immer sauber und ordentlich zusammengelegt. Der vergessene Erlaubniszettel für den Zoobesuch lag auf wundersame Weise unter meinem Schultisch, wenn die Lehrerin ihn einsammeln kam. Und ganz gleich, wie es im Arbeitszimmer meines Vaters aussah, wenn ich hineinging, um ihm einen Gutenachtkuss zu geben (und es sah fast immer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen), am nächsten Morgen war alles makellos aufgeräumt. Im Kindergarten hatte ich einmal die Mutter meiner Freundin Amanda gefragt, warum sie sich die Mühe machte, die Teller mit Spülmittel und heißem Wasser zu waschen, wenn man sie doch nur in der Spüle aufzustapeln, mit den Fingern zu schnippen und ein paar Worte zu murmeln brauchte. Mrs Schmidt lachte über meine merkwürdigen Vorstellungen von Hausarbeit, aber sie hatte mich
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