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Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht
Autoren: D Harkness
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    D as in Leder gebundene Manuskript schien nicht weiter bemerkenswert zu sein. Für einen gewöhnlichen Historiker hätte es sich nicht von unzähligen anderen, ebenso alten und zerlesenen Handschriften in der Bodleian Library in Oxford unterschieden. Aber als ich es in Händen hielt, war mir sofort klar, dass es damit irgendetwas auf sich hatte.
     
    An diesem Nachmittag Ende September war so gut wie niemand im Duke-Humfrey-Lesesaal, und da der sommerliche Ansturm der Gelehrten auf Studienreise inzwischen abgeebbt war und der Tumult zu Anfang des Herbstsemesters noch nicht eingesetzt hatte, wurden die angeforderten Schriften prompt geliefert. »Dr. Bishop, die angeforderten Handschriften liegen jetzt vor«, flüsterte Sean mit leiser Ironie, als ich an die Ausleihtheke trat. Die alten Ledereinbände hatten auf dem Rautenmuster seines Pullovers rostfarbene Streifen hinterlassen, die er verlegen wegzuwischen versuchte. Dabei sprang eine sandfarbene Locke in seine Stirn.
    »Danke.« Ich schenkte ihm ein ergebenes Lächeln. Schließlich missachtete ich ungeniert alle Ausleihbeschränkungen, und Sean, der während unserer gemeinsamen Studienzeit viele, viele Stunden mit mir unter der rosa Stuckdecke in dem Pub auf der anderen Straßenseite verbracht hatte, hatte meine Anforderungen seit über einer Woche klaglos erfüllt. »Und hör auf, mich Dr. Bishop zu nennen. Ich habe immer das Gefühl, du meinst jemand anderen.«
    Grinsend schob er die Manuskripte aus dem Magazin der Bodleian  – jedes einzelne enthielt einzigartige alchemistische Illustrationen und steckte in einem grauen Schutzkarton  – über die abgewetzte Ausleihtheke.
»Ach, da liegt noch eines.« Sean verschwand kurz in dem Gitterverschlag und kehrte mit einem dicken, in schlichtes fleckiges Kalbsleder gebundenen Manuskript im Quartformat zurück. Er legte es oben auf den Stapel und beugte sich vor, um es in Augenschein zu nehmen. Der dünne Goldrand seiner Brille funkelte im matten Schein der alten bronzenen Leselampe, die an einem Regal klemmte. »Das hier wurde schon länger nicht mehr verlangt. Ich mache mir einen Vermerk, dass es in einen Schutzkarton gesteckt wird, wenn du es zurückgegeben hast.«
    »Soll ich dich daran erinnern?«
    »Nein. Es ist schon fest vermerkt.« Sean tippte sich an die Stirn.
    »Offenbar ist dein Gedächtnis besser organisiert als meines.« Mein Lächeln wurde breiter.
    Sean sah mich schüchtern an und zupfte an dem Ausleihzettel, der aber fest zwischen dem Umschlag und den ersten Seiten klemmte. »Das hier will einfach nicht loslassen«, kommentierte er.
    Plötzlich redeten gedämpfte Stimmen aufeinander ein und durchdrangen die vertraute Stille des Lesesaales.
    »Hast du das gehört?« Verwirrt drehte ich mich nach den merkwürdigen Geräuschen um.
    »Was denn?«, fragte Sean und sah von dem Manuskript auf.
    Mir fiel auf, dass an den Manuskriptkanten die Überreste eines Goldschnittes glänzten. Aber diese verblassten Goldreste konnten unmöglich der Grund für das schwache Schillern sein, das zwischen den Seiten hervorzudringen schien. Ich blinzelte.
    »Ach nichts.« Hastig legte ich die Hand auf das Manuskript; meine Haut begann zu prickeln, sobald ich das Leder berührte. Seans Finger hielten immer noch den Ausleihzettel, der sich jetzt widerstandslos aus der Bindung löste. Als ich den Bücherstapel hochwuchtete und mit dem Kinn festklemmte, stieg mir ein beklemmender Geruch in die Nase, der die vertrauten Bibliotheksgerüche nach gespitzten Bleistiften und Bohnerwachs überlagerte.
    »Diana? Ist alles okay?«, fragte Sean besorgt.
    »Es geht mir gut. Ich bin nur ein bisschen müde«, erwiderte ich und reckte die Nase höher über die Bücher.

    Eilig marschierte ich durch den ältesten, aus dem sechzehnten Jahrhundert stammenden Teil der Bibliothek, vorbei an den Reihen von abgewetzten elisabethanischen Lesetischen mit den drei ansteigenden Bücherregalen, zwischen denen die gotischen Fenster die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Kassettendecke lenkten, an der strahlend bunt und vergoldet das Universitätswappen mit den drei Kronen und dem offenen Buch prangte und wo aus der Höhe wiederholt das Motto »Deus illuminatio mea  – Gott ist mein Licht« verkündet wurde.
    An diesem Freitagabend hielt sich außer mir nur eine weitere amerikanische Wissenschaftlerin in der Bibliothek auf. Gillian Chamberlain war Altphilologin, lehrte in Bryn Mawr und brachte ihre Zeit damit zu, über in Glas eingefassten
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