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Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht
Autoren: D Harkness
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Klammern gelöst hatte, ließ sich der Einband kaum anheben, so als wäre er mit den Seiten darunter verklebt. Ich fluchte leise und legte kurz meine Hand flach auf das Leder, in der Hoffnung, dass Ashmole 782 nur fremdelte. Die Hand auf einen Bucheinband zu legen, zählte wohl kaum als Magie. Meine Handfläche kribbelte genauso, wie meine Haut immer kribbelte, wenn mich eine Hexe ansah, und im nächsten Moment wich die Spannung aus dem Manuskript. Danach ließ es sich problemlos aufschlagen.
    Das erste Blatt war ein raues Vorsatzpapier. Auf dem zweiten Blatt, einem Pergament, standen in Ashmoles Handschrift die Worte »Anthropologia,
oder ein Traktatum über den Menschen«. Die eleganten, runden Schwünge waren mir fast so vertraut wie meine eigene fließende Handschrift. Der zweite Teil des Titels  – »in zwei Teilen: zum Ersten anatomischer Natur, zum Zweiten psychologischer Natur«  – war später von anderer Hand mit Bleistift hinzugefügt worden. Auch diese Handschrift kam mir vertraut vor, wenngleich ich sie nicht einordnen konnte. Ich hätte vielleicht mehr erfahren können, wenn ich die Finger auf die Buchstaben gelegt hätte, aber das verstieß gegen die Bibliotheksvorschriften, außerdem hätte ich die Informationen, die meine Finger mir möglicherweise geliefert hätten, unmöglich dokumentieren können. Stattdessen vermerkte ich in meiner Datei die Verwendung von Tinte und Bleistift, die zwei verschiedenen Handschriften und die möglichen Datierungen der Inschriften.
    Als ich die erste Seite umblätterte, erkannte ich, dass der befremdliche Geruch des Manuskriptes hauptsächlich dem abnorm schweren Pergament entstieg. Außerdem roch es eindeutig nicht nur alt. Es roch nach weit mehr  – einer Kombination von Staub und Moschus. Und mir fiel sofort auf, dass drei Blätter säuberlich aus der Bindung herausgetrennt worden waren.
    Endlich hatte ich etwas gefunden, das sich leicht beschreiben ließ. Meine Finger flogen über die Tastatur: »Mindestens drei Pergamentseiten entfernt, mittels Kantenlineal oder Rasiermesser.« Ich spähte in das Tal der Manuskriptbindung, konnte aber nicht feststellen, ob noch mehr Seiten fehlten. Je dichter meine Nase über dem Pergament schwebte, desto mehr lenkten mich die Kraft dieses Manuskriptes und sein eigenwilliger Geruch ab.
    Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die Illustration gegenüber der Lücke, wo die Seiten entfernt worden waren. Sie zeigte ein winziges Baby, ein Mädchen, das in einem Glasgefäß schwebte. Das Baby hielt in der einen Hand eine silberne, in der anderen Hand eine goldene Rose. An seinen Füßen saßen winzige Schwingen, und von oben regneten rote Tropfen auf das lange, schwarze Haar des Babys herab. Unterhalb der Illustration war in dicker, schwarzer Tinte zu lesen, dass es sich hierbei um eine Darstellung des philosophischen Kindes handelte  –
um die allegorische Abbildung eines entscheidenden Schrittes bei der Herstellung des Steines der Weisen, jener Substanz, die ihrem Besitzer Gesundheit, Wohlstand und Weisheit versprach.
    Die Farben leuchteten und waren verblüffend gut erhalten. Früher hatten die Künstler gemahlene Steine und Halbedelsteine in ihre Farbmischungen gerührt, um derart kraftvolle Farben zu erhalten. Gezeichnet hatte das Bild jemand mit wahrer künstlerischer Begabung. Ich musste mich auf die Hände setzen, so juckte es mich, durch ein, zwei flüchtige Berührungen Genaueres zu erfahren.
    Andererseits hatte der Illustrator trotz seiner sichtbaren Begabung alle Details falsch wiedergegeben. Das Glasgefäß hätte nach oben offen sein müssen, nicht nach unten. Das Baby sollte eigentlich halb schwarz, halb weiß sein, um anzuzeigen, dass es ein Hermaphrodit war. Es hätte männliche Genitalien und weibliche Brüste haben sollen  – oder zumindest zwei Köpfe.
    Alchemistische Darstellungen waren immer allegorisch gemeint und äußerst vertrackt. Genau aus diesem Grund studierte ich sie: Ich suchte nach Mustern, die auf einen systematischen, logischen Denkansatz für chemische Transformationen hindeuteten, und zwar in der Zeit vor der Periodentafel der Elemente. Abbildungen des Mondes standen zum Beispiel fast immer für Silber, während die Sonne Gold darstellen sollte. Wenn beides chemisch kombiniert wurde, wurde der Prozess als Hochzeit wiedergegeben. Im Laufe der Zeit waren die Bilder durch Worte ersetzt worden. Und aus diesen Worten hatte sich wiederum die Grammatik der Chemie entwickelt.
    Diese
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