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Die Nanowichte

Die Nanowichte

Titel: Die Nanowichte
Autoren: Andrew Harman
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I
O’RACLE SYSTEMS INC.
     
     
    Wenn er gewußt hätte, was in diesem Augenblick im Hals seines Papageis vorging, wäre er auf der Stelle schreiend aus dem Bett gesprungen.
    Hätte er andererseits aber vorhergesehen, welche Überraschungen der heutige Tag (Freitag der Dreizehnte) für ihn bereithielt, dann hätte er möglicherweise nichts dergleichen getan. Dann hätte er vielleicht nur leise gewimmert und einfach darauf vertraut, daß ihm das alles erspart bliebe. Hätte er es getan, es hätte alles ganz erheblich leichter gemacht. Für viele, für sehr viele Menschen.
    So aber lag er in seiner Hängematte, zuckte beim Gedanken an den gestrigen Arbeitstag unruhig im Schlaf und starrte mit geschlossenen Lider darauf, was sich nur allzu bald schon ereignen sollte.
    Gestern … Unter den eiskalten Blicken von Miesly, dem Oberauspizienten des Amtes für Obstkonservierung, hatte er, Quintzi Cohatl, zitternd und bebend das zusammengewürfelte Knochensortiment geschüttelt, ganz so, wie er es oft und oft schon getan hatte.
    »Na?« hatte ihn Miesly angefaucht und hatte ihn mit verächtlichen Blicken durchbohrt, mit Blicken, die wie spitze Speere links und rechts von seiner Adlernase aus kalten Augen schossen.
    Und auch jetzt, im Traum, schüttelte Quintzi die Knochen, schüttelte sie immer weiter. Er konnte nicht anders. Seine Nerven, geladen mit der Erinnerung an das Gestern, wollten nicht zulassen, daß er den unnachgiebigen Griff lockerte, mit dem er den Haufen tierischer Überreste festhielt. Dabei hätte er doch bloß die Knöchelchen auf den Tisch werfen, sich auf seine wahrsagerischen Fähigkeiten besinnen und die Botschaft deuten müssen. Ganz einfach. Noch einfacher, wesentlich einfacher wäre es gewesen, hätte nicht die finanzielle Sicherung seiner Zukunft davon abgehangen.
    »Mach endlich, ich hab schließlich nicht den ganzen Tag Zeit!« hatte ihn Miesly angeblafft. »Was bedeutet das?«
    »Ich …«, fing Quintzi an. Das nervenaufreibende Klappern der Spitzmausschenkelknochen wurde immer unerträglicher.
    Kein Wunder, daß er schlecht geschlafen hatte. Panische Furcht lag in der Luft, wie jedes Jahr um diese Zeit. Man konnte beinahe sehen, wie Angst und Anspannung sich entluden und funkensprühend von den Ohrläppchen der Menschen absprangen. Und das alles nur wegen der Preisverleihung. Die Bergstadt Axolotl war wie jedes Jahr wieder dem Taumel der Last-Minute-Prophetie, Vorausschau und Allgemeinweissagung verfallen. Jeden Seher, jeden Propheten und Zeichenkundigen hatte hektische Betriebsamkeit erfaßt, alle versuchten verzweifelt, jenen letzten, endgültigen Einblick in die Zukunft zu erlangen, mit dem sie sich um die alljährlich von der Auguralakademie vergebenen Preise und Auszeichnungen (und die damit verbundene Gehaltserhöhung) bewerben wollten. Und weil neunundneunzig Prozent der überabergläubischen Einwohner von Axolotl auf die eine oder andere Art die Zukunft vorhersehen konnten, war überall in der Stadt das Geräusch klappernden Gebeins zu hören, wurden an allen Ecken und Enden seltsame Substanzen verbrannt, wurden allerorten rätselhafte Mantras angestimmt.
    »Wenn du’s vermasselst, kriegst du’s nicht nur mit mir zu tun!« hatte Miesly geknurrt und den alternden Chefprognostiker des Ressorts Avocadokonservierung finster angeblickt. »In diesem Jahr bemüht sich die komplette Abteilung um die Leistungsprämie, Cohatl. Und wenn sie uns wieder von diesen Rüpeln von der Abfallvorhersage weggeschnappt wird, dann werde ich persönlich dafür sorgen, daß …«
    Urplötzlich hatte es Quintzi nicht mehr ausgehalten. Unwillkürlich hatte er den festen Griff gelockert, hatte überstürzt und vorschnell die Knochen auf den Tisch geworfen. Und jetzt sah er wieder, wie die Nagetierknöchelchen alptraumhaft langsam, wie in Zeitlupe, in alle Richtungen auseinanderpurzelten, schließlich stillagen und ein bestimmtes hochkomplexes Muster bildeten. Die Suchscheinwerfer der Wahrheit flammten auf, die Strahlenbündel suchten kreisend nach ihm und tauchten ihn in blendendhelles Licht. Er zitterte vor Angst.
    Wie jedermann wußte auch er, daß das Muster, das die Knochen bildeten, von den Mächten des Schicksals festgelegt, von den Strömen des Zufalls geformt, vom großen Gesetz des Universums zu einem vollkommenen Gebilde von außerordentlicher Informationsfülle angeordnet worden war. Jeder Knochen war Zeichen einer allgültigen Botschaft, seine Lage und Position innerhalb des Gebildes waren
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