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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler
Autoren: Monika Feth
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Kapitel 1
    Es war, als hätte sie sich in ihrem Innern ein Nest gebaut. Als säße sie darin versteckt, sicher und geborgen, während draußen ihr Körper weiter funktionierte. Dunkel war es hier drinnen. Warm. Weich. Sie hatte keinen Hunger und keinen Durst, empfand keine Schmerzen und keine Traurigkeit.
    Irgendwer hatte die Kontrolle übernommen. Das war beruhigend. Irgendwer fühlte sich immer verantwortlich. Sie ließen sie nicht im Stich. Zusammengekauert in ihrer Höhle, schloss sie die Augen und horchte auf die Stille. Für eine Weile war alles gut.
     
    »Bis morgen dann!«
    Tilo Baumgart sah von den Unterlagen auf und verabschiedete seine Sekretärin mit einem zerstreuten Lächeln. Er war damit beschäftigt, die Notizen der letzten Sitzung zu vervollständigen. Der Patient hatte ihn erregt angebrüllt und die Sitzung vorzeitig abgebrochen. Beim Hinausgehen hatte er mit voller Wucht die Tür hinter sich zugeschlagen.
    Der erste Schritt. Er hatte so viel Vertrauen gefasst, dass er loslassen und Gefühle zeigen konnte. Tilo war zufrieden. Er hatte schon gar nicht mehr darauf zu hoffen gewagt.
    »Viel Spaß!«, rief er Ruth hinterher, weil ihm eingefallen war, dass sie ja ihre Tochter zu Besuch haben würde. Das  Mädchen lebte beim Vater. Ruth holte sie an jedem zweiten Wochenende zu sich und manchmal auch für ein paar Stunden zwischendurch.
    Anscheinend hatte Ruth ihn nicht mehr gehört, denn sie antwortete nicht. Ihre Absätze klackerten über den Flur, dann war es ruhig. So ruhig, dass Tilo sich zum ersten Mal an diesem Tag entspannte.
    Gähnend schaute er auf die Uhr. Seltsam. Eigentlich müsste Mina längst hier sein. Mit achtzehn Jahren war sie die jüngste seiner Patientinnen. Seit Beginn der Therapie vor zwei Jahren hatte sie keinen Termin versäumt und sich nie verspätet. Verwundert schob er die Papiere in den Hefter, trug ihn ins Nebenzimmer und ordnete ihn in die Kartei ein. Dabei fiel sein Blick auf Ruths Schreibtisch.
    Er war ein Spiegel ihrer Persönlichkeit. Der üppige Blumenstrauß in der Vase. Das Foto ihrer kleinen Tochter. Der rote Stein, den sie als Briefbeschwerer verwendete. Die Ansichtskarte aus Irland, die an der Schreibtischlampe lehnte. All das war Ruth. Ein freundliches Durcheinander (Ruth nannte es  kreatives Nebeneinander) von Dingen.
    Tilo kehrte in sein Zimmer zurück, setzte sich auf seinen Stuhl, legte die Füße auf den Schreibtisch und schloss die Augen. Er liebte die Augenblicke, die ihm ganz allein gehörten, die wenigen Minuten zwischen den Terminen. Träge sah er sich um.
    Er nannte seine Räume nicht gern Praxis. So wie er die Menschen, die ihn hier aufsuchten, nicht gern Patienten  nannte. Er hatte sich oft andere Begriffe überlegt, doch auch die hatten nicht standgehalten. Die Menschen, die er therapierte, waren in ihrer Vielschichtigkeit unmöglich über einen Kamm zu scheren. Sie waren ihm fast immer lieber als die angeblich Gesunden draußen, ehrlicher, offener, selbst wenn sie sich versteckten. Sie waren zutiefst aufrichtig in ihrem Bemühen, der Welt mit all ihren Ängsten zu begegnen, ohne sich vollends der Panik zu überlassen.
    »Du liebst jeden von ihnen«, hatte Imke neulich zu ihm gesagt. »Und ab und zu liebst du den einen oder andern noch ein bisschen mehr.«
    Als Schriftstellerin konnte sie gar nicht anders, als genau zu beobachten. Manchmal merkte Tilo, dass er ihr gegenüber vorsichtig wurde. Menschen, Dinge und Situationen waren für Imke oft hauptsächlich Material für ihre Bücher. Er hatte nicht vor, zu einer ihrer Figuren zu werden. Und noch weniger wollte er, dass einer seiner Patienten es wurde.
    Nach einem letzten Blick auf die Uhr griff er nach dem Telefon. Mina würde nicht mehr kommen. Er hatte Imkes Nummer eingespeichert. An erster Stelle. Die Taste war schon abgegriffen, die Beschriftung verblasst.
    »Thalheim.«
    Sie meldete sich immer mit einem leise fragenden Unterton in der Stimme. Als wartete sie auf irgendwas. Oder irgendwen? Er lächelte. Das fehlte noch, dass er auf einmal anfing, eifersüchtig zu werden.
    »Ich habe gerade an dich gedacht«, sagte er.
    »Wie schön.«
    Ihre Stimme hatte sich augenblicklich verwandelt, war zärtlich geworden und ein klein wenig atemlos.
    »Soll ich dich heute zu einem fulminanten Abendessen ausführen?«, fragte er.
    »Wenn du Frauen mit fulminanten Pfunden begehrenswert findest.« Sie lachte leise. Ihre Figur war einwandfrei. Sie konnte es sich leisten, damit zu kokettieren.
    »Ich liebe
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