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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler
Autoren: Monika Feth
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Sie fing an, laut zu singen. Erschrocken schoss Julchen davon.
     
    Er lag da. Seltsam verdreht. Und vollkommen still.
    So konnte nur einer liegen, der tot war. Einer, der sich nicht freiwillig zum Sterben hingelegt hatte. Seine Augen standen offen. Sein Gesicht war bleich. Sein Kopf lag in einer Blutlache.
    Irgendwo blitzte eine Erinnerung an dieses Gesicht in ihr auf. An etwas sehr Vertrautes. Und verlosch gleich wieder.
    Sie stand zitternd an der Wand und traute sich nicht weiter. Vier, fünf große Schritte, und sie hätte die Haustür erreicht. Vier, fünf Schritte, und sie wäre in Sicherheit.
    Doch dazu musste sie an ihm vorbei. Sie wandte den Kopf ab, streckte die Arme aus und tastete sich vorwärts. Immer an der Wand entlang, von der er am weitesten entfernt war. Dann, endlich, fühlten ihre Finger das Holz der Haustür. Sie riss sie auf und stürzte hinaus. Ins Freie. Ans Licht.
    Das Blut pulsierte in ihren Schläfen. Ihr Schädel schien zu zerspringen. Sie lehnte sich gegen die Hausmauer und rang nach Atem. Schloss die Augen. Spürte die Sonne auf dem Gesicht und den leichten Wind. Die Mauersteine hatten die Wärme des Tages gespeichert. Sie presste den Rücken dagegen. Fühlte, wie sich ihre Muskeln entspannten.
    Was hatte sie hier zu suchen? Sie kannte die Gegend nicht.
    Ihr wurde kalt vor Angst, als sie merkte, dass es ihr wieder passiert war - sie hatte Zeit verloren. Wie viele Stunden fehlten in ihrer Erinnerung? Sie wusste nicht, wie sie hierhergekommen war. Hatte keine Ahnung, wie sie nach Hause zurückfinden sollte. War nicht einmal sicher, ob sie überhaupt ein Zuhause besaß.
    Ihr Blick fiel auf ihre Hände. Nein. Sie würde sich nicht einreden können, dies sei ein Traum.
    Sie sah sich um. Eine verlassene Gegend. Nur dieses Haus, einsam, hoch und still, umgeben von Bäumen, Wiesen und wenigen flachen Gebäuden. Nichts kam ihr bekannt vor.
    »Lieber Gott, hilf mir«, flüsterte sie.
    Langsam setzte sie sich in Bewegung. Dann wurden ihre Schritte schneller. Schließlich rannte sie über die staubigen Wege, die die mageren Wiesen zerteilten. An einem schmalen Bach kniete sie sich hin, wollte sich die Hände waschen, wimmernd vor Angst. Doch sofort sprang sie wieder auf und lief weiter.
    Sie wusste nicht, wohin. Sie wusste nur, dass sie hier nicht bleiben konnte.
     

Kapitel 2
    »Du siehst müde aus.« Imke umarmte Tilo und drückte die Lippen auf seinen Hals. Ganz schwach konnte sie sein Aftershave riechen. Mexx. Sie hatte es ihm zum Geburtstag geschenkt. Wie sie diesen Duft mochte. Er passte zu Tilo. Und machte ihr weiche Knie.
    »Bin ich auch. Hundemüde.« Tilo küsste ihren Nacken.
    Es überrieselte sie heiß und kalt. »Anstrengende Patienten?« Sie schloss die Haustür, nahm ihm die Tasche ab, legte sie auf einen Sessel in der Eingangshalle und ging voran in die Küche.
    »Nicht anstrengender als sonst. Vielleicht bin ich ein bisschen ausgepowert.« Tilo setzte sich an den Tisch und rieb sich übers Gesicht. Er hatte eine Rasur nötig. Wangen und Kinn waren dunkel von den nachwachsenden Stoppeln.
    »Möchtest du was trinken?«
    »Gern. Ein Glas Wasser. Ein großes.«
    Sie stellte ihm die Wasserflasche hin und ein großes Glas. Setzte sich ihm gegenüber. Wie ein altes Ehepaar, dachte sie amüsiert. Der Mann kommt von der Mühsal des Tages heim. Sein Weib empfängt ihn froh mit Speis und Trank.
    »Hunger?«, fragte sie.
    »Nach einem guten Steak«, sagte er. »Und nach dir.« Er griff über den Tisch nach ihrer Hand.
    »Interessante Reihenfolge.« Imke lachte und merkte, wie  kühl sich seine Finger anfühlten. Er arbeitete zu viel. Noch mehr als sie. Er war ein richtiger Workaholic.
    »Steaks machen stark.« Tilo warf ihr einen dieser Blicke zu, denen sie nicht widerstehen konnte. Kein altes Ehepaar, dachte sie. Wir sind noch himmelweit davon entfernt.
    »Dann nichts wie los.« Sie stand auf, um ihre Tasche zu holen. Nach kurzem Überlegen beschloss sie, ihren Mantel mitzunehmen. So warm es tagsüber auch noch war, abends wurde es doch schon empfindlich kalt.
    Tilo verschwand im Bad und kam kurz darauf, frisch gekämmt und in eine Wolke von Mexx gehüllt, wieder heraus. Im Wagen erzählte er von seinen Patienten, ohne dabei jedoch etwas auszuplaudern, was der Schweigepflicht unterlag. So war er, verantwortungsbewusst und diskret, und Imke liebte ihn dafür.
    »Wie war dein Tag?«, fragte er, als sie im Silberstreif saßen und ihre Bestellung aufgegeben hatten. Es war ihr Lieblingslokal,
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