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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler
Autoren: Monika Feth
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segelndes, hauchfeines Seidentuch damit spalten könnte.
    Das mit dem Helfersyndrom ist natürlich Quatsch. Es ist einfach spannend, sich ein Jahr lang auszuprobieren. Außerdem mag ich alte Leute. Keine Ahnung, warum. Es war schon immer so.
    Vielleicht ist ein Heim für Demenzkranke nicht jedermanns Geschmack, aber ich hatte es auf Anhieb sympathisch gefunden. Das St. Marien war klein und familiär. Dreiundfünfzig Bewohner, von denen fünfzehn an Alzheimer litten, der Rest an anderen Formen von Demenz. Der älteste Bewohner war achtundneunzig, die mit Abstand jüngste Bewohnerin, eine krasse, traurige Ausnahme, siebenundvierzig Jahre alt.
    Es war eine neue Welt für mich, und die Erfahrungen, die ich hier sammelte, taten mir gut. Das hatte sogar meine Mutter inzwischen eingesehen, nachdem sie lange versucht hatte, mich von diesem Job abzuhalten.
    »Du bist jung. Freu dich deines Lebens«, hatte sie gesagt. »Hast du in letzter Zeit nicht genug durchgemacht?«
    Das hatte ich allerdings, doch ich hatte auch großes Glück gehabt. Zweimal war ich in Todesgefahr geraten und beide Male hatte ich überlebt. Ich hatte das Gefühl, von diesem Glück einen Teil abgeben zu müssen.
    Der leere Speisesaal strahlte etwas Trauriges aus. Das Stimmengemurmel und die Geräusche waren verstummt. Die Bewohner hatten sich zurückgezogen. Die meisten gingen früh ins Bett. Viele von ihnen würden später, wenn alles schlief, durch das Haus geistern. Sie waren wie Katzen, verdösten die Tage und wurden in der Nacht lebendig.
    Hinter mir hörte ich leise Schritte. Ich drehte mich um und sah Frau Sternberg zwischen den Tischen umherwandern. Sie wirkte ängstlich und schaute immer wieder über die Schulter zur Tür.
    »Kann ich Ihnen helfen, Frau Sternberg?«
    Ich legte das Putztuch beiseite und trat langsam auf sie zu. Sie kannte mich mittlerweile gut genug, um nicht schon beim Klang meiner Stimme in Panik zu geraten, trotzdem hob sie die Hand, um mich zu stoppen. Sie konnte körperliche Nähe nicht ertragen.
    »Da draußen.« Sie blickte beunruhigt zum Fenster. »Es wird bald dunkel.«
    »Soll ich Sie nach oben bringen?«, fragte ich. »Wir machen das Licht an. Dann ist es in Ihrem Zimmer schön hell.«
    Sie hörte mich nicht. »Die Nacht ist gefährlich«, flüsterte sie. »Vor allem bei diesem vielen Schnee.«
    Dabei neigte sich der August gerade erst seinem Ende zu. Der Sommer schien noch einmal sämtliche Kräfte zu bündeln. Es war in den vergangenen Tagen so heiß gewesen,  dass man bei der kleinsten Bewegung in Schweiß ausgebrochen war.
    »Kommen Sie, Frau Sternberg.« Ich nahm behutsam ihren Arm. Sie wehrte sich nicht und überließ sich meiner Führung.
    Es gab hier überall gemütliche Nischen, in die sich die Bewohner zurückziehen konnten. Sie waren mit alten Möbeln ausgestattet, die Wände mit alten, gerahmten Fotos geschmückt. Auf den Tischen lagen ausgeblichene Klöppeldecken. Hier stand eine vorsintflutliche Nähmaschine, da ein hölzernes Schaukelpferd von früher.
    All diese Dinge waren aus einem bestimmten Grund angeschafft worden. Demenzkranke haben die Fähigkeit verloren, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Sie kennen sich auch in ihrem Leben nicht mehr aus, vergessen die Namen ihrer Angehörigen, können die Wochentage, die Monate und Jahre nicht unterscheiden und fürchten sich vor ihrem eigenen Spiegelbild.
    Aber sie erinnern sich an die Zeit ihrer Kindheit. An einen Zustand des Geborgenseins. Und hier im Heim versuchte man, diese Kindheit mit Möbeln, Bildern und antiquarischen Büchern wieder heraufzubeschwören.
    Die Heimbewohner blieben selten in ihren Zimmern. Meistens kamen sie herunter und kuschelten sich in einen der altmodischen Plüschsessel, hörten die Musik von früher und fühlten sich für einige kostbare Momente sicher.
    »Ich muss nach Hause«, sagte Frau Sternberg. »Mein Mann wartet aufs Essen.« Aber sie wehrte sich nicht gegen meine Hand, die ihren Arm hielt und sie zum Fahrstuhl lenkte. »Er hätte längst eine Beförderung verdient. Er ist so fleißig.«
    Ich nickte. Das Erste, was man hier lernte, waren ein paar wichtige Umgangsregeln. Zum Beispiel durfte man die Bewohner nicht dadurch verwirren, dass man sie in die Gegenwart zu zerren versuchte. Man musste dort auf sie zugehen, wo sie sich gerade befanden, an irgendeinem Punkt in ihrer Vergangenheit.
    »Bestimmt«, sagte Frau Sternberg, »wird er noch mal Bundeskanzler. Oder Papst.«
    Herr Sternberg war Mitte achtzig. Er
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