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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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›Terroristen‹ und ›Banditen‹. Die Leute hier glauben der Zeitung. Bei euch ist ja vielleicht Revolution, aber hier bei uns ist Sowjetmacht.« Im Haus roch es nach Baldrian.
    Ich erfuhr die dörflichen Neuigkeiten … Jurka Schwed, ein Farmer, war eines Nachts von zwei Männern in Zivil mit einem Auto abgeholt worden, wie unser Großvater 1937. Sie haben das ganze Haus durchsucht und den Computer beschlagnahmt. Die Krankenschwester Anja N. wurde entlassen – sie hatte in Minsk an einer Kundgebung teilgenommen und war in eine oppositionelle Partei eingetreten. Sie hat ein kleines Kind. Ihr Mann hat sich betrunken und sie verprügelt: verfluchte Oppositionelle! Und die Mütter der Jungs, die in Minsk bei der Miliz dienen, erzählen stolz herum, dass ihre Söhne große Prämien bekommen und ihnen Geschenke mitgebracht hätten. (Sie schweigt.) Sie haben das Volk gespalten … Ich war im Klub, beim Tanz, aber ich wurde den ganzen Abend kein einziges Mal aufgefordert. Weil ich … weil ich eine Terroristin bin … Die Leute hatten Angst vor mir …
     
    »Aber Orange kann zu Rot werden …«
     
    Ein Jahr später trafen wir uns zufällig im Zug von Moskau nach Minsk wieder. Alle schliefen längst, aber wir redeten.
     
    Ich studiere jetzt in Moskau. Ich gehe mit meinen Moskauer Freunden zu Kundgebungen. Das ist so toll! Ich mag die Gesichter der Menschen, die ich dort sehe. Ich erinnere mich an solche Gesichter bei uns, als wir in Minsk auf den Platz gegangen waren und ich meine Stadt nicht wiedererkannte. Die Menschen nicht wiedererkannte. Das waren andere Menschen. Ich habe Heimweh, großes Heimweh.
    Im Zug nach Minsk kann ich nie richtig einschlafen. Ich döse nur, halb wach, halb schlafend … Mal bin ich wieder im Gefängnis, mal im Wohnheim … Alles kommt wieder hoch … Stimmen von Männern und Frauen …
     
    »… wir mussten uns hinstellen, Beine auseinander, oder auf den Bauch legen, und sie drückten uns die Beine in den Nacken …«
     
    »Sie legten ein Blatt Papier auf die Nieren, damit es keine Spuren gab, und schlugen mit einer Plastikflasche voll Wasser zu …«
     
    »Er zog mir eine Plastiktüte über den Kopf oder eine Gasmaske. Na, und dann … das könnt ihr euch ja vorstellen, nach ein paar Minuten verlor ich das Bewusstsein … Dabei hatte er Frau und Kinder zu Hause. Ein guter Ehemann. Ein guter Vater …«
     
    »Sie traten zu, immer wieder … in Stiefeln, in Schnürschuhen, in Turnschuhen …«
     
    »Meinst du, sie lernen nur Fallschirmspringen und an einer Strickleiter aus einem Hubschrauber zu klettern? Sie werden nach den gleichen Lehrbüchern ausgebildet wie unter Stalin …«
     
    »In der Schule hat man uns gesagt: ›Lest Bunin und Tolstoi, diese Bücher retten den Menschen.‹ Wer kann mir sagen, warum nichts davon weitergegeben wird, aber eine Türklinke in den Anus und eine Plastiktüte über den Kopf – das wird weitergegeben?«
     
    »Wenn man ihnen das Gehalt verdoppelt oder verdreifacht … Ich fürchte, dann werden sie schießen …«
     
    »Bei der Armee ist mir klargeworden, dass ich Waffen mag. Ich, ein Professorensohn, aufgewachsen mit vielen Büchern. Ich möchte eine Pistole besitzen. Das ist ein schönes Ding! In Jahrhunderten perfekt an die Hand angepasst. Es liegt so angenehm darin. Ich würde sie gern hervorholen, putzen und ölen. Ich mag diesen Geruch.«
     
    »Was meinst du, wird es eine Revolution geben?«
     
    »Orange ist die Farbe von Hundepisse im Schnee. Aber Orange kann zu Rot werden …«
     
    »Wir gehen hin …«
     
     
    XLIX Livejournal – Internetblog.
     
    L Dekabristin – von ru ss. dekabr – D ezember.

ANMERKUNDEN EINER NORMALBÜRGERIN
     
     
     
    Was für Erinnerungen? Ich lebe wie alle. Als die Perestroika war … Gorbatschow … Die Postbotin machte die Gartenpforte auf: »Hast du gehört, es gibt keine Kommunisten mehr!« »Wie das?« »Die Partei hat dichtgemacht.« Keiner hat geschossen, nichts. Jetzt heißt es, das war ein großes Imperium, und nun ist alles verloren. Aber was habe ich verloren? Ich lebe genau wie früher in meinem Häuschen ohne jeden Komfort, ohne Wasser, ohne Kanalisation, ohne Gas. Ich hab mein Leben lang ehrlich gearbeitet. Hab geackert und geackert, daran war ich gewöhnt. Und hab immer nur ein paar Kopeken verdient. Ich esse genau wie früher nur Makkaroni und Kartoffeln. Mein Pelzmantel stammt noch aus Sowjetzeiten. Und wir haben hier jede Menge Schnee!
    Meine schönste Erinnerung ist die an meine
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