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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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nächsten Monat braucht meine Frau ein Paar Stiefel. Du bist ein hübsches Mädchen. Such dir lieber einen anständigen Kerl und heirate.« Wir erreichten die Stadt. Musik, Lachen, Pärchen, die sich küssten. Die Stadt lebte weiter, als wären wir nicht vorhanden.
    Ich wollte unbedingt mit meinem Freund reden. Ich konnte es kaum erwarten. Wir waren schon drei Jahre zusammen gewesen, hatten Pläne gemacht. (Sie schweigt.) Er hatte mir versprochen, auch zur Kundgebung zu kommen, war aber nicht erschienen. Ich erwartete von ihm eine Erklärung. Tja, und dann kam er angetrabt. Die anderen Mädchen aus meinem Zimmer ließen uns allein. Erklärungen?! Lächerlich! Ich war, wie sich herausstellte, »einfach blöd«, »ein deutlicher Beweis«, eine »naive Revolutionärin«. Er habe mich vorher gewarnt – ob ich das vergessen hätte? Er habe mir klargemacht, dass es unvernünftig sei, sich in Dinge einzumischen, die man nicht beeinflussen könne. Es gebe ja Leute, die für andere lebten, aber davon halte er nichts, er wolle nicht auf einer Barrikade sterben. Das sei nicht seine Berufung. Sein wichtigstes Ziel sei die Karriere. Er wolle einmal viel Geld haben. Ein Haus mit Swimmingpool. Man müsse einfach leben und lächeln. Es gebe heutzutage so viele Möglichkeiten … mehr als genug … Man könne die ganze Welt bereisen, tolle Kreuzfahrten machen, aber das sei teuer, man könne sich sogar einen Palast kaufen, aber das sei teuer, man könne im Restaurant Elefantenfleisch oder Schildkrötensuppe essen … Aber für das alles brauche man Geld. Geld! Geld! Unser Physiklehrer hat mal gesagt: »Liebe Studenten! Geld kann alles lösen, sogar Differenzialgleichungen.« Das ist die harte Wahrheit. (Sie schweigt.) Und die Ideale? So etwas gibt es also nicht? Vielleicht können Sie mir das ja sagen? Sie schreiben doch Bücher … (Sie schweigt.) Auf einer Institutsversammlung wurde ich exmatrikuliert. Alle hoben die Hand und stimmten dafür, bis auf meinen alten Lieblingsprofessor. Er wurde am selben Tag mit dem Notarztwagen aus dem Institut abgeholt. Meine Freundinnen trösteten mich im Wohnheim, als es niemand sah. »Sei uns nicht böse, der Dekan hat gedroht, er würde uns aus dem Wohnheim werfen, wenn …« A-ach! Schöne Heldinnen!
    Ich kaufte mir eine Fahrkarte für die Heimreise. In der Stadt habe ich immer Sehnsucht nach dem Dorf. Allerdings weiß ich nicht, nach welchem Dorf ich mich sehne, wahrscheinlich nach dem Dorf meiner Kindheit. Nach dem Dorf, in dem Vater mich mitnahm, wenn er die schweren Honigwaben aus dem Bienenstock holte. Erst beräucherte er den Stock, damit die Bienen uns nicht stachen. Als ich klein war, glaubte ich, die Bienen seien kleine Vögel … (Sie schweigt.) Ob ich das Dorf noch immer liebe? Die Leute dort leben genau wie früher, Jahr für Jahr. Sie buddeln in ihrem Garten die Kartoffeln mit dem Spaten aus, kriechen auf Knien in ihren Beeten herum. Sie brennen Schnaps. Abends trifft man keinen einzigen nüchternen Mann, sie trinken jeden Tag. Sie stimmen für Lukaschenko und sehnen sich nach der Sowjetunion zurück. Nach der unbesiegbaren Sowjetarmee. Auf der Heimfahrt setzte sich im Bus ein Nachbar neben mich. Er war betrunken. Und redete über Politik: »Ich würde jedem dieser Demokratenbastarde persönlich die Fresse polieren. Ihr seid noch zu gut weggekommen. Ehrenwort! Erschießen sollte man solche Leute. Meine Hand würde nicht zittern. Das wird alles von Amerika bezahlt … von Hillary Clinton … Aber wir sind ein starkes Volk. Wir haben die Perestroika überlebt, wir überleben auch die Revolution. Ein kluger Mann hat mir erzählt, dass sich die Juden die Revolution ausgedacht haben.« Der ganze Bus unterstützte ihn. »Wenn es nur nicht schlimmer wird als jetzt. Wenn man den Fernseher anmacht – überall Bomben und Schießereien.«
    Dann war ich zu Hause. Ich öffnete die Tür. Meine Mutter saß in der Küche und putzte Dahlienknollen, sie hatten im Keller Frost gekriegt und waren angefault, sie sind nämlich empfindlich, sie vertragen keine Kälte. Ich half Mutter. Wie früher als Kind. »Was ist los bei euch in der Hauptstadt?«, war Mutters erste Frage. »Im Fernsehen haben sie einen Haufen Leute gezeigt, die gegen die Regierung geschrien haben. O mein Gott! Das macht einem ja Angst! Wir hatten Angst, dass es Krieg gibt: Manche haben Söhne beim OMON , die Kinder von anderen sind Studenten, die waren auf dem Platz und haben geschrien. In der Zeitung steht, das seien
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