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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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anpassen. Die Mittelmäßigkeit überlebt und sorgt für die Erhaltung der Art.«
     
    »Hingehen ist dumm, nicht hingehen ist noch schlimmer.«
     
    »Wer hat euch blöden Hammeln denn gesagt, Revolution sei Fortschritt? Ich bin für die Evolution.«
     
    »Ob Weiße oder Rote … Mir sind alle scheißegal!«
     
    »Ich bin ein Revolutionär …«
     
    »Sinnlos! Wenn Militärfahrzeuge mit kahlgeschorenen Jungs anrücken, kriegst du eins mit dem Gummiknüppel über den Schädel, und das war’s dann. Die Macht muss eisern sein.«
     
    »Der ›Genosse Mauser‹ 1 kann mich mal. Ich habe niemandem versprochen, ein Revolutionär zu werden. Ich will mein Studium beenden und ein eigenes Geschäft aufziehen.«
     
    »Mir platzt der Schädel!«
     
    »Angst ist eine Krankheit …«
     
    Wir waren fröhlich und unbeschwert. Wir haben viel gelacht und gesungen. Alle mochten einander sehr. Die Stimmung war phantastisch. Manche hatten ein Plakat dabei, andere eine Gitarre. Freunde riefen uns auf dem Handy an und erzählten uns, was im Internet berichtet wurde. Wir waren auf dem Laufenden … So erfuhren wir: Die Höfe im Stadtzentrum sind voller Militärfahrzeuge mit Soldaten und Miliz. Vor der Stadt wurden Truppen zusammengezogen … Wir glaubten das und glaubten es auch nicht, die Stimmung schwankte, aber Angst hatte niemand. Die Angst war plötzlich weg. Erstens, weil wir ja so viele waren … Zehntausende! Ganz unterschiedliche Leute. Noch nie waren wir so viele gewesen. Ich kann mich nicht erinnern … Und zweitens waren wir ja zu Hause. Das war schließlich unsere Stadt. Unser Land. In der Verfassung standen unsere Rechte: Versammlungs-, Demonstrations- und Kundgebungsfreiheit … Freiheit des Wortes … Es gab Gesetze! Wir waren die erste Generation, die nicht verschreckt war. Die keine Prügel bezogen, die keinen Krieg und keine Erschießungen erlebt hatte. Und wenn sie uns für fünfzehn Tage einsperrten? Na und! Dann hätten wir was zu schreiben im Livejournal XLIX . Die Regierung sollte nicht glauben, wir seien eine Herde, die blind ihrem Hirten folgt! Dass der Fernseher uns das Gehirn ersetzte. Ich hatte für alle Fälle eine Tasse dabei, denn ich wusste: Im Gefängnis gibt es nur eine Blechtasse für zehn Leute. Außerdem hatte ich einen warmen Pullover im Rucksack und zwei Äpfel. Während der Demonstration fotografierten wir uns gegenseitig, um eine Erinnerung an diesen Tag zu haben. In Mützen, mit lustigen leuchtenden Hasenohren … Weihnachtsmützen aus China. Weihnachten stand ja vor der Tür … Es schneite … Das war so schön! Ich habe keinen einzigen Betrunkenen gesehen. Hatte jemand eine Bierdose in der Hand, wurde ihm die sofort abgenommen und ausgeschüttet. Auf einem Dach entdeckte jemand einen Mann. »Ein Scharfschütze! Ein Scharfschütze!« Alle amüsierten sich darüber. Wir winkten ihm zu. »Komm zu uns! Spring runter!« Das war toll. Früher war ich der Politik gegenüber apathisch, ich hätte nie gedacht, dass es solche Gefühle gab und dass ich sie einmal empfinden würde. So etwas fühlte ich nur, wenn ich Musik hörte. Musik ist mein Ein und Alles, sie ist unentbehrlich. Es war unglaublich aufregend. Neben mir lief eine Frau … Warum habe ich sie nicht nach ihrem Namen gefragt? Dann hätten Sie über sie schreiben können. Ich war mit anderem beschäftigt – es war alles so schön, alles war neu für mich. Diese Frau hatte ihren Sohn dabei, er mag etwa zwölf gewesen sein. Noch ein Schulkind. Ein Milizoberst beschimpfte die Frau ziemlich derb durchs Megaphon, sie sei eine schlechte Mutter. Und verrückt. Da klatschten alle ihr und ihrem Sohn Beifall. Ganz spontan. Das ist so wichtig … es ist so wichtig, das zu wissen … Wir hatten uns ja die ganze Zeit geschämt. Die Ukrainer hatten ihren Maidan, ihren Platz der Unabhängigkeit, die Georgier ihre Rosenrevolution. Über uns aber hatten alle gelacht: Minsk ist eine kommunistische Hauptstadt, Weißrussland die letzte Diktatur in Europa. Jetzt lebe ich in dem Bewusstsein: Wir sind auf die Straße gegangen. Hatten keine Angst. Das ist das Wichtigste … das ist das Allerwichtigste …
    Wir standen uns gegenüber: wir und sie. Hier ein Volk, dort ein anderes. Das sah seltsam aus … Die einen mit Plakaten und Bildern, die anderen in Kampfformation, mit Schilden und Gummiknüppeln. Breitschultrige junge Männer. Gutaussehende Burschen! Wie sollten die uns schlagen? Mich schlagen? Sie waren so alt wie ich, Verehrer von mir. Tatsache! Jungs
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