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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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erkennen. Er war weder alt noch jung, einfach ein Mann, nichts Besonderes. Wissen Sie, was er tat? Er riss die Türen des Transporters weit auf und ließ sie lange offen – es gefiel ihm, dass wir vor Kälte anfingen zu zittern. Wir alle hatten dünne Jacken an und billige Stiefel mit Kunstpelz. Er sah uns an und lächelte. Er handelte nicht auf Befehl, sondern aus eigenem Antrieb. Von sich aus. Ein anderer Milizionär hingegen steckte mir ein Snickers zu. »Hier, nimm. Wieso bist du bloß auf den Platz gegangen?« Es heißt, um zu verstehen, müsse man Solschenizyn lesen. Als ich noch zur Schule ging, habe ich mir in der Bibliothek mal Archipel Gulag ausgeliehen, aber damals konnte ich damit nichts anfangen. Ein dickes und langweiliges Buch. Nach fünfzig Seiten legte ich es wieder weg … Das war so weit weg wie der Trojanische Krieg. Stalin war ein abgedroschenes Thema. Ich und meine Freunde – wir interessierten uns kaum dafür …
    Das Erste, was dir im Gefängnis passiert … Sie kippen alle Sachen aus deiner Tasche auf den Tisch. Das ist ein Gefühl … Als ob sie dich ausziehen … Auch buchstäblich wird man ausgezogen: »Unterwäsche ausziehen. Beine auf Schulterbreite auseinander. Vorbeugen.« Was haben sie in meinem Anus gesucht? Sie behandelten uns wie Kriminelle. »Gesicht zur Wand! Kopf runter!« Wir mussten die ganze Zeit zu Boden schauen. Sie konnten es gar nicht leiden, wenn man ihnen in die Augen sah. »Gesicht zur Wand! Was hab ich gesagt – Gesicht zur Wand!« Und immer in Reih und Glied … Auch zur Toilette: »In einer Reihe hintereinander antreten.« Um das alles auszuhalten, errichtete ich innerlich eine Barriere: Hier wir – da sie. Verhör, Ermittler, Aussagen … Beim Verhör: »Du sollst schreiben: Ich bekenne mich vollumfänglich schuldig.« »Was wirft man mir denn vor?« »Na hör mal! Das weißt du nicht? Du hast dich an Massenunruhen beteiligt …« »Das war eine friedliche Protestaktion.« Er setzte mich unter Druck: Man werde mich exmatrikulieren und meine Mutter entlassen. Mit einer solchen Tochter könne sie schließlich nicht weiter als Lehrerin arbeiten. Meine Mutter! Ich dachte die ganze Zeit an sie … Das merkten sie, und jedes Verhör begann mit den Worten »Deine Mutter weint«, »Deine Mutter ist im Krankenhaus«. Und wieder: Nenn uns Namen … Wer lief neben dir? Wer hat die Flugblätter verteilt? Unterschreib … nenn uns Namen … Sie versprechen, niemand werde davon erfahren und sie würden einen dann gleich nach Hause schicken. Man muss sich entscheiden … »Ich unterschreibe nichts.« Doch nachts weinte ich. Meine Mutter war im Krankenhaus … (Sie schweigt.) Man kann leicht zum Verräter werden, weil man seine Mutter liebt … Ich weiß nicht, ob ich noch einen weiteren Monat durchgehalten hätte. Sie lachten und spotteten: »Na, wie sieht’s aus, Soja Kosmodemjanskaja?« Fröhliche junge Männer. (Sie schweigt.) Ich habe Angst … Wir kaufen in denselben Läden ein, sitzen in denselben Cafés, fahren mit derselben Metro. Wir begegnen uns überall. Im normalen Leben existiert keine klare Grenze zwischen »uns« und »ihnen«. Wie soll man sie erkennen? (Sie schweigt.) Früher lebte ich in einer guten Welt, aber die gibt es nicht mehr, und die wird es nicht mehr geben.
    Einen ganzen Monat in einer Zelle … Während dieser Zeit habe ich kein einziges Mal einen Spiegel gesehen. Ich hatte einen kleinen Spiegel dabeigehabt, aber der war nach der Durchsuchung der Handtasche verschwunden. Genau wie das Portemonnaie mit dem Geld. Ich hatte die ganze Zeit Durst. Unerträglichen Durst! Zu trinken bekamen wir nur zum Essen, ansonsten hieß es: »Trinkt aus dem Klo!« Dabei wieherten sie laut. Und tranken Fanta. Ich dachte, ich würde mich nie wieder satt trinken und zu Hause den ganzen Kühlschrank mit Mineralwasser füllen. Wir alle stanken … wir konnten uns ja nirgends waschen … Eine von uns hatte einen kleinen Flakon Parfüm mit, den reichten wir herum und rochen daran. Währenddessen saßen unsere Freunde in der Bibliothek, fertigten Konspekte an, legten Prüfungen ab. Ich dachte an lauter belanglose Dinge … An das neue Kleid, das ich noch kein einziges Mal getragen hatte … (Sie lacht.) Ich habe gelernt, dass Kleinigkeiten Freude machen können, zum Beispiel Zucker oder ein Stück Seife. Wir waren siebzehn in einer Zelle für fünf Personen, auf zweiun ddr eißig Quadratmetern. Wir mussten lernen, mit zwei Quadratmetern auszukommen. Besonders schlimm war
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