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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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habe nach dem Raumflug von Juri Gagarin angefangen, an den Kommunismus zu glauben. Wir waren die Ersten! Wir können alles! So haben er und meine Mutter auch uns erzogen. Ich war Oktoberkin d 5 , t rug das Abzeichen mit dem lockenköpfigen kleinen Jungen darauf, ich war Pionierin und Komsomolzin. Die Enttäuschung kam später.
    Nach der Perestroika warteten alle auf die Öffnung der Archive. Sie wurden geöffnet. Und wir erfuhren vieles aus der Geschichte, das man vor uns geheim gehalten hatte …
    »Wir müssen neunzig der hundert Millionen, die Sowjetrussland bevölkern, für uns gewinnen. Mit den Übrigen ist nicht zu reden – sie müssen vernichtet werden.« (Sinowjew 6 , 1918)
    »Mindestens 1000 notorische Kulaken und Reiche aufhängen (unbedingt aufhängen, damit das Volk es sieht) … ihnen alles Getreide wegnehmen, Geiseln bestimmen … Dafür sorgen, dass das Volk im Umkreis von Hunderten Werst das sieht und zittert …« (Lenin, 1918)
    »Moskau verhungert buchstäblich.« (Professor Kusnezow an Trotzki) »Das ist kein Hunger. Als Titus Jerusalem einnahm, aßen jüdische Mütter ihre eigenen Kinder. Wenn ich eure Mütter dazu bringe, die eigenen Kinder zu essen, dann können Sie kommen und sagen: Wir hungern.« (Trotzki, 1919)
    Die Menschen lasen das alles in Zeitungen und Zeitschriften und verstummten. Ein so unvorstellbares Grauen! Wie sollten sie damit leben? Viele nahmen die Wahrheit auf wie einen Feind. Und auch die Freiheit. »Wir kennen unser Land nicht. Wir wissen nicht, was die Mehrheit der Menschen denkt, wir sehen sie, begegnen ihnen jeden Tag, doch was sie denken, was sie wollen, das wissen wir nicht. Aber wir erdreisten uns, sie zu belehren. Bald werden wir alles erfahren – und entsetzt sein«, sagte ein Bekannter von mir, mit dem ich oft in meiner Küche saß. Ich stritt mit ihm. Das war 1991 … Eine glückliche Zeit! Wir glaubten, morgen, buchstäblich morgen würde die Freiheit anbrechen. Aus dem Nichts, allein aus unseren Wünschen.
    Aus den »Notizbüchern« von Warlam Schalamow 7 : »Ich habe teilgenommen an der großen verlorenen Schlacht für eine wahre Erneuerung des Lebens.« Das schrieb jemand, der siebzehn Jahre in Stalins Lagern gesessen hat. Die Sehnsucht nach dem Ideal war geblieben … Ich würde die Sowjetmenschen in vier Generationen einteilen: die Stalin-, die Chruschtschow-, die Breschnew- und die Gorbatschow-Generation. Ich gehöre zur letzten. Uns fiel es leichter, den Zusammenbruch der kommunistischen Idee zu akzeptieren, denn wir haben die Zeit nicht mehr erlebt, da die Idee noch jung und stark war, noch die unverbrauchte Magie fataler Romantik und utopischer Hoffnungen besaß. Wir sind unter den Kremlgreisen aufgewachsen. In enthaltsamen, »vegetarischen« Zeiten 8 . Das große Blutvergießen des Kommunismus war schon vergessen. Das große Pathos war allgegenwärtig, aber ebenso das Wissen darum, dass sich die Utopie nicht in die Wirklichkeit umsetzen lässt.
    Es war während des ersten Tschetschenien-Krieges … Auf einem Bahnhof in Moskau lernte ich eine Frau kennen, die aus der Gegend von Tambow kam. Sie wollte nach Tschetschenien, um ihren Sohn aus dem Krieg wegzuholen. »Ich will nicht, dass er stirbt. Ich will nicht, dass er tötet.« Über ihre Seele hatte der Staat keine Macht mehr. Sie war ein freier Mensch. Solche Menschen gab es damals nicht viele. Die Mehrheit fühlte sich von der Freiheit genervt: »Ich habe drei Zeitungen gekauft, und in jeder steht eine andere Wahrheit. Wo ist die richtige Wahrheit? Früher hast du morgens die Prawda gelesen und wusstest Bescheid. Hast alles verstanden.« Aus der Narkose der Idee erwachten die Menschen nur langsam. Wenn ich mit jemandem über Reue reden wollte, bekam ich zur Antwort: »Was soll ich denn bereuen?« Jeder fühlte sich als Opfer, niemand als Beteiligter. Der eine sagte: »Ich habe auch gesessen«, der Nächste: »Ich war an der Front«, der Dritte: »Ich habe meine Stadt aus Trümmern wieder aufgebaut, hab Tag und Nacht Ziegelsteine geschleppt.« Das war sehr überraschend: Alle waren berauscht von der Freiheit, aber nicht bereit für die Freiheit. Wo war sie denn, die Freiheit? Nur in der Küche, wo nach alter Gewohnheit weiter auf die Regierenden geschimpft wurde. Auf Jelzin und auf Gorbatschow. Auf Jelzin, weil er Russland verändert hat. Und auf Gorbatschow? Auf Gorbatschow, weil er alles verändert hat. Das ganze 20. Jahrhundert. Nun würde bei uns alles so sein wie anderswo. Wie überall. Wir
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