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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Land, in dem Stalin nicht weniger Menschen vernichtet hat als Hitler? Sowjetisches ist wieder in Mode. »Sowjetische« Cafés mit sowjetischen Namen und sowjetischen Speisen. »Sowjetisches« Konfekt und »sowjetische« Wurst – die so riecht und schmeckt, wie wir es aus unserer Kindheit kennen. Und natürlich »sowjetischer« Wodka. Es gibt Dutzende Fernsehsendungen und Dutzende nostalgische »sowjetische« Internetseiten. Die stalinschen Lager sind Touristenziele geworden. Die Werbung verspricht ein perfektes Erlebnis – inklusive Lagerkleidung und Spitzhacke. Und Besichtigung der restaurierten Baracken. Zum Abschluss gibt es einen Angelausflug …
    Veraltete Ideen leben wieder auf: vom großen Imperium, von der »eisernen Hand«, vom »besonderen russischen Weg« … Die sowjetische Hymne ist zurück, es gibt wieder einen Komsomol, nur heißt er jetzt »Die Unseren«, es gibt eine Partei der Macht, die die Kommunistische Partei kopiert. Der Präsident hat die gleiche Macht wie früher der Generalsekretär. Die absolute Macht. Statt Marxismus-Leninismus haben wir jetzt die Orthodoxie …
    Vor der Revolution von 1917 schrieb Alexander Grin 12 : »Die Zukunft ist nicht mehr an ihrem Platz.« Seitdem sind hundert Jahre vergangen, und wieder ist die Zukunft nicht mehr an ihrem Platz. Wir leben in einer Secondhand-Zeit.
    Die Barrikade ist ein gefährlicher Ort für einen Künstler. Eine Falle. Dort verdirbt man sich die Augen, die Pupille verengt sich, die Welt büßt ihre Farben ein. Dort ist die Welt schwarzweiß. Von dort aus sieht man den Menschen nur noch als schwarzen Punkt, als Zielscheibe. Ich stand mein Leben lang auf Barrikaden, und ich möchte weg davon. Möchte lernen, mich am Leben zu freuen. Wieder normal zu sehen. Aber Zigtausende Menschen gehen erneut auf die Straße. Nehmen sich bei den Händen. Sie tragen weiße Bänder an den Jacken. Ein Symbol der Wiedergeburt. Des Lichts. Und ich gehe mit.
    Auf der Straße habe ich junge Leute mit Hammer und Sichel und einem Lenin-Bild auf dem T- Shirt gesehen. Ob sie wissen, was Kommunismus bedeutet?

 
     
     
    Erster Teil
    TROST DURCH APOKALYPSE

AUS STRASSENLÄRM UND KÜCHENGESPRÄCHEN
(1991–2001)
     
Vom dummen Iwanuschka
und dem goldenen Fischlein
     
    »Was ich begriffen habe? Ich habe begriffen, dass die Helden der einen Zeit selten auch die Helden einer anderen Zeit sind, bis au21f den dummen Iwanuschka. Und Jemelja. 1 Die Lieblingshelden aus den russischen Märchen. Unsere Märchen vom Glückspilz, von einem Augenblick des Glücks. Vom Warten auf wundersame Hilfe, auf dass einem alles von selbst in den Mund fliegt. Dass man auf dem Ofen liegt und alles bekommt. Dass der Ofen von selber Pfannkuchen bäckt und das goldene Fischlein alle Wünsche erfüllt. Ich will dies, und ich will jenes. Ich will die schöne Königstochter! Und ich will in einem anderen Königreich leben – wo die Flüsse aus Milch sind und die Ufer aus Pudding. Wir sind Träumer, natürlich. Die Seele plagt sich und leidet, doch die eigentliche Arbeit geht nicht voran, denn dafür reicht unsere Kraft nicht mehr. Die Arbeit kommt nicht voran. Die rätselhafte russische Seele … Alle bemühen sich, sie zu verstehen … lesen Dostojewski … Was steckt hinter dieser Seele? Eben nichts als die Seele. Wir sitzen gern in der Küche und reden, und wir lesen gern. Im Hauptberuf sind wir Leser. Zuschauer. Und dabei fühlen wir uns als etwas Besonderes, Einmaliges, obwohl wir dafür keinen Grund haben – außer Öl und Gas. Einerseits verhindert genau das Veränderungen, andererseits gibt es uns das Gefühl eines Sinns. Immer liegt die Idee in der Luft, dass Russland etwas schaffen, der Welt etwas Außergewöhnliches beweisen muss. Ein von Gott auserwähltes Volk. Ein besonderer russischer Weg. Bei uns ist jeder ein Oblomow, liegt auf dem Sofa und wartet auf ein Wunder, keiner ist ein Stolz. 2 Die tätigen, tüchtigen Stolzes, die verachten wir, weil sie unseren geliebten Birkenwald oder unseren Kirschgarten abholzen. Und dort Fabriken bauen, Geld verdienen. Sie sind uns fremd, die Stolzes …«
     
    »Die russische Küche … Die armselige Chruschtschowka-Küche – neun, wenn man Glück hatte, zwölf Quadratmeter, hinter der dünnen Wand die Toilette. Sowjetische Bauweise. Auf dem Fensterbrett Zwiebellauch in Mayonnaisegläsern, ein Blumentopf mit Aloe gegen Schnupfen. Die Küche ist bei uns nicht nur der Ort, wo gekocht wird, sie ist zugleich Esszimmer, Wohnzimmer, Arbeitszimmer und
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