Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
Vom Netzwerk:
Tribüne. Ort kollektiver psychotherapeutischer Sitzungen. Im 19. Jahrhundert entstand die ganze russische Kultur auf Adelsgütern, im 20. entstand sie in der Küche. Auch die Perestroika. Die ganze Bewegung der ›Sechziger‹ 3 war eine Küchenbewegung. Dank Chruschtschow! Unter ihm kamen wir aus den Gemeinschaftswohnungen raus, erhielten eigene Küchen, wo man auf den Staat schimpfen konnte und wo man vor allem keine Angst haben musste, denn in der Küche war man unter sich. Dort wurden Ideen geboren und Phantasieprojekte. Wurden Witze erzählt … Die Witze gediehen! Ein Kommunist ist einer, der Marx gelesen hat, und ein Antikommunist ist einer, der ihn verstanden hat. Wir sind in den Küchen aufgewachsen, unsere Kinder auch, sie haben mit uns zusammen Galitsch und Okudshawa gehört. Und Wyssozki. Und Radiosendungen der BBC . Geredet wurde über alles: darüber, wie beschissen alles ist, über den Sinn des Lebens, über das Glück für alle. Ich erinnere mich an eine lustige Sache … Wir saßen einmal bis nach Mitternacht zusammen, und unsere Tochter, sie war damals zwölf, war auf dem kleinen Küchensofa eingeschlafen. Plötzlich fingen wir laut an zu streiten. Da rief sie halb im Schlaf: ›Hört auf mit der Politik! Dauernd Sacharow, Solschenizyn … Stalin …‹ (Er lacht.)
    Endlos wurde Tee getrunken. Kaffee. Und Wodka. In den Siebzigern tranken wir kubanischen Rum. Alle waren verliebt in Fidel! In die kubanische Revolution! In Che mit seiner Baskenmütze. Schön wie ein Hollywood-Star! Endloses Gerede. Die Angst, abgehört zu werden, ja, ganz bestimmt. Mitten im Gespräch schaute irgendwer meist lachend auf die Lampe oder auf die Steckdose und sagte: ›Hören Sie, Genosse Major?‹ Es war irgendwie riskant … und irgendwie ein Spiel … Dieses verlogene Leben machte sogar fast Spaß. Nur verschwindend wenige leisteten öffentlich Widerstand, die meisten waren ›Küchendissidenten‹. Sie ballten die Faust nur in der Tasche …«
     
    »Heutzutage muss man sich schämen, wenn man arm ist, unsportlich … Wenn man nicht mithalten kann. Aber ich gehöre noch zur Generation der Hauswarte und Pförtner. Das war eine Art innerer Emigration. Man ignorierte einfach, was um einen herum geschah, das war wie eine Landschaft draußen vorm Fenster. Meine Frau und ich haben beide an der philosophischen Fakultät der Petersburger (damals noch Leningrader) Universität studiert, danach suchte sie sich eine Stelle als Hauswart, ich wurde Heizer. Vierundzwanzig Stunden Arbeit, zwei Tage frei. Ein Ingenieur verdiente damals 130 Rubel, als Heizer bekam ich 90 Rubel, doch diese 40 Rubel weniger bedeuteten absolute Freiheit. Wir lasen, wir lasen sehr viel. Und redeten. Wir glaubten, wir würden Ideen entwickeln. Wir träumten von Revolution und fürchteten, sie nicht mehr zu erleben. Wir lebten im Grunde ziemlich abgeschottet, hatten keine Ahnung, was in der Welt los war. Wir waren ›Zimmerpflanzen‹. Alles, was wir uns so zusammenphantasierten, erwies sich später als Illusion – der Westen, der Kapitalismus, das russische Volk. Wir lebten von Illusionen. Ein Russland wie in den Büchern oder in den Küchen, das hat es nie gegeben. Nur in unseren Köpfen.
    Mit der Perestroika war das alles vorbei … Der Kapitalismus brach herein … Aus 90 Rubeln wurden 10 Dollar. Davon konnte man nicht leben. Wir verließen die Küchen und gingen auf die Straße, und da stellte sich heraus, dass wir gar keine Ideen hatten, dass wir die ganze Zeit nur dagesessen und geredet hatten. Plötzlich tauchten ganz andere Leute auf – junge Männer in weinroten Jacketts und mit Goldringen. Und mit neuen Spielregeln: Wenn du Geld hast, bist du ein Mensch, hast du keins, bist du ein Niemand. Wen interessiert es, dass du den ganzen Hegel gelesen hast? Geisteswissenschaftler – das klang wie eine Diagnose. Wie: Die können nichts weiter als einen Band Mandelstam in der Hand halten. Plötzlich offenbarte sich vieles, was wir nicht gekannt hatten. Die Intelligenzija verarmte entsetzlich. In unserem Park schlugen Krischna-Anhänger am Wochenende eine Feldküche auf und verteilten Suppe und einfache Gerichte. Der Anblick der kultivierten alten Leute, die dort Schlange standen, schnürte einem die Kehle zu. Manche verbargen ihr Gesicht. Wir hatten zu der Zeit schon zwei kleine Kinder. Wir hungerten ganz real. Meine Frau und ich wurden Händler. Wir kauften vier bis sechs Kisten Eis in der Fabrik und fuhren auf den Markt, wo viele Menschen waren. Einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher