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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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werden – das bedaure ich. Ich bin ein Sowok, ja? Meine Eltern sind Sowki, meine Großeltern – alles Sowki, ja? Mein Sowok-Großvater ist 1941 vor Moskau gefallen … Und meine Sowok-Großmutter war bei den Partisanen … Die Herren Liberalen arbeiten ihren Lohn ab. Sie wollen, dass wir unsere Vergangenheit als schwarzes Loch betrachten. Ich hasse sie alle: gorbatschow, schewardnadse, jakowlew – schreiben Sie die klein, so sehr hasse ich sie. Ich will nicht nach Amerika, ich will in die UdSSR …«
     
    »Das waren wunderbare, naive Jahre … Wir haben Gorbatschow geglaubt, heute glauben wir niemandem mehr so leicht. Viele Russen kehrten damals aus der Emigration nach Russland zurück … Das war ein solcher Enthusiasmus! Wir dachten, wir würden diese Baracke einreißen. Etwas Neues errichten. Ich habe an der philologischen Fakultät der Moskauer Universität studiert und eine Doktorandenstelle angetreten. Ich träumte von der Wissenschaft. Unser Idol war damals Awerinzew 5 , zu seinen Vorlesungen strömte das ganze aufgeklärte Moskau zusammen. Wir bestärkten einander in der Illusion, dass unser Land bald ein anderes sein würde und dass wir dafür kämpften. Als ich erfuhr, dass eine Kommilitonin nach Israel ausreisen würde, war ich ganz erstaunt. ›Tut es dir denn nicht leid, jetzt wegzugehen? Bei uns fängt doch alles erst an!‹
    Je mehr von Freiheit geredet und geschrieben wurde, desto rascher verschwanden nicht nur Fleisch und Käse aus den Läden, sondern auch Salz und Zucker. Die Geschäfte waren leer. Es war schlimm. Alles gab es nur noch auf Marken, wie im Krieg. Unsere Rettung war meine Großmutter, sie lief den ganzen Tag durch die Stadt und beschaffte alles, was es auf diese Marken gab. Unser Balkon war vollgestellt mit Waschpulver, im Schlafzimmer standen Säcke mit Zucker und Graupen. Als Karten für Socken ausgegeben wurden, weinte mein Vater. ›Das ist das Ende der UdSSR .‹ Er hat es gefühlt … Mein Vater arbeitete im Konstruktionsbüro eines Rüstungsbetriebs, sein Spezialgebiet waren Raketen, und er liebte seine Arbeit. Er hatte zwei Hochschulabschlüsse. Anstelle der Raketen produzierte der Betrieb nun Waschmaschinen und Staubsauger. Mein Vater wurde entlassen. Er und meine Mutter waren glühende Perestroika-Anhänger, sie malten Plakate, verteilten Flugblätter – und dann dieses Ende. Sie waren fassungslos. Sie konnten nicht glauben, dass dies die Freiheit war. Damit konnten sie sich nicht abfinden. Auf den Straßen wurde schon geschrien: ›Gorbatschow kommt nicht mehr an, Jelzin ist jetzt unser Mann!‹ Auf Plakaten sah man Breschnew, mit Orden behängt, und Gorbatschow, mit Zuteilungsmarken behängt. Dann begann Jelzins Herrschaft: Gaidars Reformen und das mir so verhasste ›Kaufen und Verkaufen‹. Um zu überleben, fuhr ich mit Säcken voller Glühlampen und Spielzeug nach Polen. Der Waggon war voller Lehrer, Ingenieure, Ärzte … Alle mit Säcken und Taschen beladen. Die ganze Nacht saßen wir zusammen und redeten über Pasternaks Doktor Shiwago , über die Stücke von Schatrow … Wie in Moskau in der Küche.
    Wenn ich an meine Studienfreunde denke … Wir sind alles Mögliche geworden, nur keine Philologen: Topmanager von Werbeagenturen, Bankangestellte, Tschelnoki I … Ich arbeite in einer Immobilienagentur, bei einer Dame aus der Provinz, sie war mal Komsomolfunktionär. Wer besitzt denn heute Firmen? Und Häuser auf Zypern und in Miami? Die ehemalige Parteinomenklatura. Das zum Thema, wo das Geld der Partei geblieben ist … Und unsere Anführer … die ›Sechziger‹ … Sie hatten im Krieg so viel Blut gesehen, aber sie waren naiv wie die Kinder … Wir hätten Tag und Nacht auf den Plätzen bleiben müssen. Die Sache zu Ende bringen – einen Nürnberger Prozess für die KPdSU erzwingen. Wir sind zu schnell wieder nach Hause gegangen. Schieber und Geldwechsler haben die Macht übernommen. Und entgegen der Lehre von Marx bauen wir nun nach dem Sozialismus den Kapitalismus auf. (Sie schweigt.) Aber ich bin glücklich, dass ich diese Zeit erlebt habe. Der Kommunismus ist gestürzt! Es ist vorbei, er wird nicht mehr zurückkehren. Wir leben jetzt in einer anderen Welt und betrachten die Welt mit anderen Augen. Den freien Atem jener Tage werde ich nie vergessen …«
Davon, wie die Liebe kam und
draußen Panzer fuhren
     
    »Ich war verliebt, ich konnte an nichts anderes denken. Ich lebte nur damit. Eines Morgens weckte mich meine Mutter: ›Panzer – draußen sind
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