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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Panzer! Ich glaube, das ist ein Umsturz!‹ Ich murmelte halb im Schlaf: ›Mama, das ist eine Übung.‹ Von wegen! Draußen standen echte Panzer, ich hatte noch nie Panzer aus solcher Nähe gesehen. Im Fernsehen lief Schwanensee … Mutters Freundin kam angerannt, sie war ganz aufgeregt, weil sie mehrere Monate lang keinen Parteibeitrag gezahlt hatte. Sie sagte, in ihrer Schule habe eine Lenin-Büste gestanden, die habe sie in eine Abstellkammer gebracht – was sollte sie nun damit machen? Sofort war wieder alles beim Alten: Dies darf man nicht, und jenes darf man nicht. Ein Sprecher verlas die Erklärung über die Verhängung des Ausnahmezustands … Mutters Freundin zuckte bei jedem Wort zusammen. ›Mein Gott! Mein Gott!‹ Mein Vater spuckte den Fernseher an …
    Ich rief Oleg an … ›Fahren wir zum Weißen Haus?‹ ›Klar!‹ Ich habe mir ein Gorbatschow-Abzeichen angesteckt. Und Brote gemacht. In der Metro waren die Leute nicht sehr gesprächig, alle rechneten mit dem Schlimmsten. Überall waren Panzer … Panzer … Darauf saßen keine Mörder, sondern verschreckte Jungs mit schuldbewusster Miene. Alte Frauen brachten ihnen gekochte Eier und Pfannkuchen. Mir wurde leichter ums Herz, als ich sah, dass sich vor dem Weißen Haus Zehntausende Menschen versammelt hatten. Die Stimmung war großartig. Wir hatten das Gefühl, alles zu können. Wir riefen: ›Jelzin! Jelzin! Jelzin!‹ Selbstverteidigungstrupps formierten sich. Nur junge Leute wurden genommen, Ältere wurden abgewiesen und ärgerten sich darüber. Ein alter Mann war empört. ›Die Kommunisten haben mir mein Leben gestohlen! Gönnt mir wenigstens einen schönen Tod!‹ ›Gehen Sie beiseite, Vater …‹ Heute heißt es, wir hätten den Kapitalismus verteidigen wollen … Das ist nicht wahr! Ich wollte den Sozialismus verteidigen, aber einen anderen Sozialismus … nicht den sowjetischen … Und ich habe ihn auch verteidigt! Das dachte ich. So dachten wir alle … Nach drei Tagen zogen die Panzer aus Moskau ab, und nun waren es gute Panzer. Sieg! Wir küssten uns immer wieder …«
     
    Ich sitze in der Küche bei Moskauer Bekannten. Eine große Truppe ist versammelt – Freunde, Verwandte aus der Provinz. Wir erinnern uns, dass am nächsten Tag der Jahrestag des Augustputsches ist.
     
    »Morgen ist ein Feiertag …«
     
    »Was gibt es da zu feiern? Eine Tragödie. Das Volk hat verloren.«
     
    »Zur Musik von Tschaikowsky wurde die Sowjetunion begraben …«
     
    »Das Erste, was ich getan habe, ich hab mir mein Geld gegriffen und bin schnell einkaufen gegangen. Ich wusste, wie immer es ausgehen würde, auf jeden Fall würden die Preise steigen.«
     
    »Ich hab mich gefreut: Gorbi wird abgesetzt! Ich hatte genug von diesem Schwätzer.«
     
    »Die Revolution war reine Dekoration. Ein Spektakel fürs Volk. Ich erinnere mich an die absolute Gleichgültigkeit, egal, mit wem man redete. Alle warteten ab.«
     
    »Ich rief auf meiner Arbeitsstelle an und ging Revolution machen. Ich habe alle Messer aus der Anrichte gekramt. Mir war klar, das war Krieg, und da braucht man Waffen …«
     
    »Ich war für den Kommunismus! Alle in unserer Familie sind Kommunisten. Meine Mutter hat uns zum Einschlafen Revolutionslieder vorgesungen. Die singt sie jetzt auch den Enkeln vor. ›Bist du verrückt?‹, hab ich sie gefragt. Und sie: ›Andere Lieder kenne ich nicht.‹ Mein Großvater war Bolschewik … meine Großmutter auch …«
     
    »Sagen Sie bloß noch, der Kommunismus sei ein schönes Märchen. Die Eltern meines Vaters sind in den Lagern in Mordwinien verschwunden …«
     
    »Ich bin mit meinen Eltern zum Weißen Haus gegangen. Mein Vater hat gesagt: ›Wir gehen hin. Sonst wird es bei uns nie Wurst und gute Bücher geben.‹ Wir haben Pflastersteine rausgerissen und Barrikaden gebaut.«
     
    »Jetzt urteilt das Volk nüchterner, und das Verhältnis zu den Kommunisten hat sich verändert. Da muss ich nichts mehr verheimlichen … Ich habe im Kreiskomitee des Komsomol gearbeitet. Am ersten Tag habe ich alle Komsomolausweise, -anträge und -abzeichen mit nach Hause genommen und in meinen Keller gebracht, später wusste ich nicht, wohin mit den Kartoffeln. Keine Ahnung, was ich damit wollte, aber ich stellte mir vor, wie sie kommen und das alles vernichten würden – und für mich waren das doch wertvolle Symbole.«
     
    »Wir hätten losziehen und einander töten können … Gott hat uns davor bewahrt!«
     
    »Unsere Tochter lag in der
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