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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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dachten, diesmal würde es gelingen.
    Russland veränderte sich und hasste sich dafür, dass es sich veränderte. »Ein träger Mongole«, schrieb Karl Marx über Russland.
    Die sowjetische Zivilisation … Ich beeile mich, ihre Spuren festzuhalten. Die vertrauten Gesichter. Ich frage nicht nach dem Sozialismus, ich frage nach Liebe, Eifersucht, Kindheit und Alter. Nach Musik, Tanz und Frisuren. Nach Tausenden Einzelheiten des verschwundenen Lebens. Das ist die einzige Möglichkeit, die Katastrophe in den Rahmen des Gewohnten zu zwingen und etwas darüber zu erzählen. Etwas zu verstehen. Ich staune immer wieder, wie interessant das normale menschliche Leben ist. Unendlich viele menschliche Wahrheiten … Historiker interessieren sich nur für Fakten, die Gefühle bleiben draußen. Sie werden von der Geschichtsschreibung nicht erfasst. Ich aber sehe die Welt mit den Augen der Menschenforscherin, nicht mit denen eines Historikers. Ich bestaune den Menschen …
    Mein Vater lebt nicht mehr. Ein Gespräch, das wir beide miteinander hatten, kann ich mit ihm nicht mehr zu Ende führen … Er sagte, das Sterben sei ihnen damals im Krieg leichter gefallen als den unerfahrenen Jungen, die in Tschetschenien umkämen. Seine Generation sei in den vierziger Jahren von einer Hölle in die andere geraten. Vor dem Krieg studierte mein Vater am Institut für Journalistik in Minsk. Er erzählte, wenn sie nach den Semesterferien wiederkamen, hätten sie oft keinen einzigen früheren Dozenten mehr angetroffen, weil alle verhaftet worden waren. Sie verstanden nicht, was da geschah, aber sie hatten Angst. Angst wie im Krieg.
    Ich habe mit meinem Vater selten offene Gespräche geführt. Er hatte Mitleid mit mir. Hatte ich Mitleid mit ihm? Die Antwort darauf fällt mir schwer … Wir waren hart gegen unsere Eltern. Wir dachten, Freiheit, das sei ganz einfach. Nun ist einige Zeit vergangen, und diese Bürde lastet schwer auf uns, denn niemand hat uns Freiheit gelehrt. Nur, wie man für die Freiheit stirbt.
    Da ist sie – die Freiheit! Hatten wir sie uns so vorgestellt? Wir waren bereit, für unsere Ideale zu sterben. Dafür zu kämpfen. Doch dann begann ein Leben wie bei Tschechow. Ohne große Geschichte. Alle Werte zerstört, bis auf den Wert des Lebens. Des Lebens an sich. Neue Träume: ein Haus bauen, ein schönes Auto kaufen, Stachelbeeren pflanzen … Die Freiheit entpuppte sich als Rehabilitierung des Kleinbürgertums, das im russischen Leben gewöhnlich unterdrückt wurde. Als Freiheit Seiner Majestät Konsum. Als eine Größe der Finsternis. Der Finsternis der Bedürfnisse, der Instinkte – jenes privaten Lebens, von dem wir nur eine ungefähre Vorstellung hatten. Wir haben im gesamten Verlauf unserer Geschichte immer nur überlebt, nie gelebt. Jetzt aber wird die Kriegserfahrung nicht mehr gebraucht, wir mussten sie vergessen. Tausende neue Emotionen, Zustände, Reaktionen … Irgendwie war plötzlich alles anders: die Plakate, die Dinge, das Geld, die Staatsflagge … Auch die Menschen selbst. Sie waren auf einmal farbiger, individueller, der Monolith war gesprengt, das Leben in einzelne Inseln, Atome, Zellen zerfallen. Das große Böse war zu einer fernen Legende geworden, zu einem Politkrimi. Niemand sprach mehr von einer Idee, alle redeten von Krediten, Prozenten und Wechseln, Geld wurde nicht verdient, sondern »gemacht«, »gewonnen«. Ob das von Dauer ist? »Das Bewusstsein vom Unrecht des Geldes ist in der russischen Seele unausrottbar«, schrieb Marina Zwetajewa in ihrem Tagebuch. Doch nun scheint es, als wären die Helden von Ostrowski 9 und Saltykow-Schtschedrin 10 auferstanden und spazierten durch unsere Straßen.
    Jeden, mit dem ich sprach, habe ich gefragt: »Was ist Freiheit?« Die Väter antworteten darauf anders als ihre Kinder. Diejenigen, die in der UdSSR geboren wurden, und diejenigen, die nicht in der UdSSR geboren wurden, haben keine gemeinsamen Erfahrungen. Sie sind Menschen von verschiedenen Sternen.
    Die Väter: Freiheit ist die Abwesenheit von Angst; die drei Tage im August, als wir den Putsch besiegten; wer im Laden aus hundert Wurstsorten auswählen kann, ist freier als jemand, der nur aus zehn Sorten auswählt; nicht geprügelt werden – aber eine Generation, die nicht geprügelt wurde, wird es bei uns nie geben, der Russe versteht die Freiheit nicht, er braucht Kosaken und die Peitsche.
    Die Kinder: Freiheit ist Liebe; innere Freiheit ist ein absoluter Wert; wenn man keine Angst vor seinen Wünschen
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