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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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hat; viel Geld, dann kann man alles haben; wenn man leben kann, ohne sich Gedanken über die Freiheit zu machen. Freiheit ist normal.
    Ich suche nach der Sprache. Der Mensch hat viele Sprachen: die Sprache, in der er mit seinen Kindern spricht, die Sprache der Liebe … und die Sprache, in der wir mit uns selbst reden, die Sprache der inneren Selbstgespräche. Auf der Straße, auf der Arbeitsstelle, auf Reisen – jedes Mal eine andere Sprache, nicht nur die Worte sind verschieden. Es ist sogar ein Unterschied, ob man morgens oder abends spricht. Und was in der Nacht zwischen zwei Menschen geschieht, fehlt in der Geschichtsschreibung ganz. Wir haben es nur mit der Geschichte des Tagmenschen zu tun. Selbstmord ist ein Nachtthema, da steht der Mensch an der Grenze zwischen Sein und Nichtsein. Oder Schlaf. Das möchte ich verstehen, mit der Gründlichkeit des Tagmenschen. Ich wurde gefragt: »Haben Sie keine Angst, dass Sie Gefallen daran finden könnten?«
    Wir fahren durch das Gebiet Smolensk. In einem Dorf halten wir vor einem Laden. Was für vertraute, schöne, gute Gesichter (ich bin selbst auf dem Land aufgewachsen) – und was für eine demütigende, bettelarme Existenz. Wir kommen ins Gespräch, reden über das Leben. »Nach der Freiheit fragen Sie? Gehen Sie in unseren Laden, da kriegen Sie jeden Wodka, den Sie wollen: Standard, Gorbatschow, Putinka, und jede Menge Wurst, Käse und Fisch. Sogar Bananen. Was für eine Freiheit brauchen wir noch? Die reicht uns.« »Haben Sie auch Land bekommen?« »Wer soll sich da krummmachen? Wer wollte, konnte Land haben. Bei uns hat nur Waska Krutoi gewollt. Sein Jüngster, er ist erst acht, der läuft schon mit dem Vater hinterm Pflug. Wenn man sich bei dem zum Arbeiten verdingt – da ist nichts mit Klauen oder Pennen. Ein Faschist!«
    Bei Dostojewski gibt es einen Streit über die Freiheit. Darüber, dass der Weg zur Freiheit schwierig ist, voller Leid und Tragik … »Warum zum Teufel müssen wir überhaupt erkennen, was gut und böse ist, wenn es uns so teuer zu stehen kommt?« 11
    Der Mensch muss sich die ganze Zeit entscheiden: Freiheit oder Wohlstand und gutes Leben, Freiheit mit Leiden oder Glück ohne Freiheit. Die meisten Menschen gehen den zweiten Weg.
    Der Großinquisitor sagt zu Jesus, der auf die Erde zurückgekehrt ist: »Was bist Du gekommen, uns zu stören? Denn uns zu stören bist Du gekommen, und Du selbst weißt es wohl.«
    »Indem Du ihn [den Menschen] so hoch achtetest, hast du gehandelt, als hättest Du kein Erbarmen mehr mit ihm, denn zuviel hast Du von ihm gefordert. […] Hättest Du ihn geringer geachtet, hättest Du auch weniger von ihm gefordert, und das wäre der Liebe näher gekommen, hätte es doch sein Joch erleichtert. Schwach ist der Mensch und gemein. […] Was kann die schwache Seele dafür, daß sie nicht die Kraft hat, so furchtbare Gaben aufzunehmen?«
    »Es gibt für den Menschen, solange er frei ist, keine dauernde und bedrückendere Sorge als so bald wie möglich etwas zu finden, das er anbeten kann. […] und keine quälendere Sorge, als jemanden zu finden, dem er so schnell wie möglich das Geschenk der Freiheit abtreten kann, mit der dieses beklagenswerte Geschöpf geboren wird.«
     
    In den Neunzigern … ja, da waren wir glücklich, zu dieser Naivität von damals können wir nicht mehr zurück. Wir glaubten, die Entscheidung sei gefallen, der Kommunismus hätte ein für alle Mal verloren. Dabei fing alles erst an …
    Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen … »Mit dem Sozialismus macht ihr uns keine Angst«, sagen die Kinder zu ihren Eltern.
    Aus einem Gespräch mit einem Unidozenten aus meiner Bekanntschaft: »Ende der neunziger Jahre lachten mir die Studenten ins Gesicht, wenn ich von der Sowjetunion sprach, sie waren überzeugt, dass vor ihnen eine neue Zukunft liege. Jetzt hat sich das Bild gewandelt … Die heutigen Studenten wissen bereits, was Kapitalismus ist, sie haben es zu spüren bekommen: Ungleichheit, Armut, dreist zur Schau getragener Reichtum; sie haben das Leben ihrer Eltern vor Augen, die von dem geplünderten Land nichts abbekommen haben. Sie sind radikal eingestellt. Träumen von ihrer eigenen Revolution. Sie tragen rote T- Shirts mit Bildern von Lenin und Che Guevara.«
    In der Gesellschaft gibt es ein neues Bedürfnis nach der Sowjetunion. Nach dem Stalin-Kult. Die Hälfte der jungen Menschen zwischen neunzehn und dreißig hält Stalin für einen »großartigen Politiker«. Ein neuer Stalin-Kult in dem
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