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Karwoche

Karwoche

Titel: Karwoche
Autoren: Andreas Föhr
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Prolog
    E s war kurz nach sieben, als sie aufstand und das Fenster öffnete. Der Morgen war eisig an diesem ersten Weihnachtstag. Die Kälte der Bergluft, die hereindrängte, überraschte Katharina. Sie hatte unruhig geschlafen. Schlechte Gedanken hatten sie verfolgt. Sie war in Panik erwacht, schweißgebadet. Von unten kam ein Fiepen und Kratzen, das sie schon in ihren Träumen gehört hatte. Es musste der Hund sein.
    Sie sah hinunter in den Hof. Gegenüber das ehemalige Wirtschaftsgebäude mit dem Bundwerk im oberen Stock. Im Erdgeschoss der alte Pferdestall, in dem die Antiquitäten standen, die im Haupthaus keinen Platz fanden. Darüber ein blasser, makelloser Himmel eine Stunde vor Sonnenaufgang.
    Es war so elend still an diesem Morgen.
    Neuschnee.
    Othello war unruhig, als Katharina mit Uggs an den Füßen und einem Pullover über dem Nachthemd in die Eingangshalle kam. Er fiepte, hechelte, schabte an der Tür. Als sie öffnete, rannte der Hund hinaus und über den Hof zum ehemaligen Stall, geradewegs, ohne sich im Neuschnee aufzuhalten. Er rannte schnell, als fürchte er, zu spät zu kommen. Die Tür war nur angelehnt und gab nach, als Othello die Pfoten dagegendrückte. Kurz darauf hallte sein verzweifeltes Bellen über den Hof. Die Kälte kroch ihr durch den Pullover.
    Leni war tot. Sie lag auf dem Boden, umgeben von alten Möbeln, die auf ihre Renovierung warteten. Die Körpermitte war zerfetzt. Ein Gemenge aus Pulloverwolle, Blut und inneren Organen. Die Lache auf dem Boden war klein. Ein Teil der Schrotladung hatte das Herz der jungen Frau getroffen. Es hatte sofort aufgehört, Blut durch den Körper zu pumpen. Im Fallen hatte sie einen Biedermeierstuhl umgestoßen.
    Katharina rang nach Luft und musste sich auf die Holzdielen setzen. Benommen wanderte ihr Blick durch den Raum, über staubige Möbel, die zerbrochene Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hing, blieb kurz an ihren eigenen, fellgefütterten Schuhen hängen, daneben der schwarze Hund, der unablässig an Lenis Hand leckte, als könne er sie wieder zum Leben erwecken. Katharina zwang sich, zu ihrer Tochter hinüberzusehen. Das Mädchengesicht war weiß wie Marmor. Wären die Augen geschlossen gewesen, hätte es den Anschein von Frieden gehabt. Aber sie waren offen und starrten in die Leere zwischen den staubigen Stuhlbeinen. Wen hatten diese Augen zuletzt gesehen?
    Katharina versuchte aufzustehen, knickte ein, versuchte es noch einmal, gab auf und kroch auf allen Vieren zu ihrem Kind. Sie scheuchte den Hund fort und drückte Lenis eisige Hand an ihr Gesicht. Jetzt kamen ihr die Tränen. Sie hatte in diesem Augenblick nur einen Wunsch: bei Leni zu sein.
     
    Als Katharina aus der Tür trat, nahm ihr die kalte Luft fast den Atem. Sie sah hinüber zum Haupthaus. Dort lag alles im Schlaf, und keiner ahnte, was passiert war. Oder vielleicht doch – zumindest einer? Sie spürte das Verlangen, zum Waffenschrank zu gehen und sich einen Gewehrlauf in den Mund zu stecken. Wie sollte sie nach diesem Morgen weiterleben? Ganz langsam jedoch stieg aus ihrem Inneren, dort, wo ein massiver Klumpen Schmerz gegen die Lungen drückte, ein Gefühl empor, das sie all die Jahre geleitet und überleben lassen hatte: Wenn die Geschehnisse unkanalisiert ihren Lauf nähmen, würde die Familie daran zerbrechen. Nur daran durfte sie jetzt denken. Und sie musste es unter allen Umständen verhindern.
     
    »Wie viel Uhr ist es?«
    »Sieben. Komm mit. Es ist etwas Furchtbares passiert.«
    Wolfgang, Katharinas Schwager, zog eine Holzfällerjacke über und schlüpfte in abgetragene Joggingschuhe. Von der Remise, in der er wohnte, bis zum Stall waren es fünfzig Meter. Genug Zeit, um nachzufragen. Doch Wolfgang kannte Katharina seit fünfunddreißig Jahren und wusste, dass er nicht fragen, sondern mitkommen sollte. Sie gingen schweigend durch den knöcheltiefen Neuschnee.
    Als er vor der Leiche seiner Nichte stand, schlug Wolfgang die Hände vors Gesicht und wimmerte: »OGott.« Katharina sagte: »Wir müssen den anderen Bescheid sagen. Deck sie zu. Es reicht, dass wir sie so gesehen haben.« Wolfgang rang nach Luft und weinte. Sie nahm seine Hand, drückte sie. Dann ging er weg, eine Decke holen.
     
    Lange standen sie stumm im Raum. Jemand trat versehentlich auf einen Schalter, die Christbaumbeleuchtung ging an. Jennifer fand als Erste Worte. »Was heißt erschossen?«
    »Du weißt, was das heißt.«
    »Ich meine, wer … wer sollte so etwas …« Jennifer
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