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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Internet wird er als »Kartoffeldiktator« und »Toller Mops« verspottet, doch das Volk ist seine Geisel. Der letzte Diktator Europas … Er verhehlt nicht, dass er Sympathien für Hitler hegt – auch der wurde ja lange nicht ernst genommen und nur der »Korporal« und der »böhmische Gefreite« genannt.
    Am Abend protestierten auf dem Oktoberplatz, dem zentralen Platz in Minsk, Zehntausende gegen Wahlfälschungen. Die Demonstranten verlangten, dass die offiziell verkündeten Wahlergebnisse für ungültig erklärt würden, und forderten Neuwahlen ohne Lukaschenko. Die friedliche Protestaktion wurde von Sondertruppen und OMON brutal niedergeschlagen. In den Wäldern um Minsk standen einsatzbereite Truppen …
    Über siebzig Demonstranten wurden verhaftet, darunter sieben ehemalige Präsidentschaftskandidaten, die noch Immunität genossen …
    Seit den Wahlen haben die weißrussischen Sicherheitsdienste Tag und Nacht zu tun. Im ganzen Land begannen politische Repressionen: Verhaftungen, Verhöre, Durchsuchungen von Wohnungen, Redaktionen oppositioneller Zeitungen und Büros von Menschenrechtsorganisationen, Beschlagnahme von Computern und anderer Bürotechnik. Vielen der Inhaftierten im Gefängnis Okrestino und im KGB -Gefängnis drohen zwischen vier und fünfzehn Jahren Haft wegen »Organisation von Massenunruhen« und »versuchten Staatsstreichs« (so bewertet die weißrussische Regierung heute die Teilnahme an einer friedlichen Protestaktion). Aus Angst vor Verfolgung und einer Verschärfung der Diktatur verlassen Hunderte Menschen das Land …
    Aus Zeitungsberichten. Dezember 2010 – März 2011
Chronik der Gefühle
     
    »Wir waren fröhlich und unbeschwert …«
     
    Ich nenne Ihnen nicht meinen Namen, sondern den meiner Großmutter. Ich habe Angst … natürlich … Alle wollen Helden sehen, aber ich bin keine Heldin. Dafür bin ich nicht gemacht. Im Gefängnis dachte ich nur an meine Mutter, an ihr krankes Herz. Wie mochte es ihr gehen? Sollten wir siegen, wird das in den Geschichtsbüchern stehen … Aber die Tränen unserer Angehörigen? Ihr Leid? Ideen sind eine starke, gewaltige Sache, eine immaterielle Kraft, die man nicht messen kann. Sie hat kein Gewicht … es ist eine andere Materie … Plötzlich ist etwas wichtiger als die eigene Mutter. Du musst dich entscheiden. Aber du bist nicht bereit … Jetzt weiß ich, wie es ist, wenn du in dein Zimmer kommst, in dem KGB -Leute herumgewühlt haben, in deinen Büchern … dein Tagebuch gelesen haben … (Sie schweigt.) Als ich heute zu Ihnen aufbrechen wollte, rief meine Mutter an. Ich sagte ihr, dass ich mich mit einer bekannten Schriftstellerin treffen würde, da fing sie an zu weinen. »Sag nichts. Erzähl ihr nichts.« Unterstützung bekomme ich von Fremden, nicht von meinen Angehörigen, von meiner Familie. Aber sie lieben mich …
    Vor der Kundgebung … Wir versammelten uns am Abend im Wohnheim und stritten. Über das Leben und darüber, wer zur Kundgebung gehen würde und wer nicht. Soll ich davon erzählen, ja? Worüber wir redeten?
     
    »Gehst du hin?«
     
    »Ich gehe nicht. Sonst werfen sie mich aus dem Institut und holen mich zur Armee. Dann muss ich mit einer MP rumlaufen.«
     
    »Wenn ich rausgeschmissen werde, verheiratet mich mein Vater sofort.«
     
    »Es wurde genug geschwatzt, es ist Zeit, etwas zu tun. Wenn alle Angst haben …«
     
    »Ich soll ein Che Guevara werden?« (Das war mein Exfreund, von ihm erzähle ich noch.)
     
    »Ein Schluck Freiheit …«
     
    »Ich gehe, weil ich es satt habe, in einer Diktatur zu leben. Sie halten uns doch für hirnloses Vieh.«
     
    »Na, ich bin kein Held. Ich will studieren und Bücher lesen.«
     
    »Ein Witz über den Sowok: Er ist bissig wie ein Hund, aber stumm wie ein Fisch.«
     
    »Ich bin ein kleiner Mann, von mir hängt gar nichts ab. Ich gehe nie zur Wahl.«
     
    »Ich bin ein Revolutionär … ich gehe hin. Revolution, das ist total geil!«
     
    »Was sind denn deine revolutionären Ideale? Die neue lichte Zukunft – der Kapitalismus? Es lebe die lateinamerikanische Revolution!«
     
    »Mit sechzehn habe ich meine Eltern verurteilt, weil sie ständig vor irgendetwas Angst hatten, wegen Vaters Karriere. Ich dachte: Sie sind blöd, aber wir sind toll! Wir werden auf die Straße gehen! Wir werden alles sagen. Heute bin ich genau so ein Konformist wie sie. Ein richtiger Konformist. Laut Darwin überleben nicht die Stärksten, sondern diejenigen, die sich am besten an ihre Umgebung
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