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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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ein ehemaliger Kreisstaatsanwalt, der zusammen mit seinem Bruder zwei Frauen mit einer Axt erschlagen hat – eine Buchhalterin und eine Kassiererin. Er schreibt ein Buch über sich. Nicht einmal zum Spaziergang geht er hinaus, weil er keine Zeit verlieren will. Sie haben damals eine ganz unbedeutende Summe erbeutet. Warum haben sie das getan? Er weiß es nicht … Oder der Schlosser, der seine Frau und seine beiden Kinder getötet hat … Bis zur Haft hat er nie etwas anderes in der Hand gehalten als einen Schraubenschlüssel, und jetzt hängen überall im Gefängnis Bilder, die er gemalt hat. Jeder von ihnen hat seine eigenen Dämonen, jeder will sich aussprechen. Mord ist für die Täter genauso ein Mysterium wie für die Opfer …
    … ein dort zufällig mitgehörtes Gespräch … »Glaubst du, es gibt einen Gott?« »Wenn es Ihn gibt, dann ist der Tod noch nicht das Ende. Ich möchte nicht, dass es Ihn gibt.«
    … Was ist Liebe? Wolodja ist groß und sieht gut aus, Jura dagegen ist ein Zwerg … Sie hat mir gestanden, dass Jura sie als Mann mehr befriedigt … Aber sie müsse … Sie habe nun einmal so einen Mann, dem ein Unglück widerfahren sei. Sie müsse seine Hand halten …
    … Die erste Zeit lebte sie noch im Dorf bei ihren Kindern. Zweimal im Jahr fuhr sie Wolodja besuchen. Dann verlangte er, sie solle alles verlassen und zu ihm ziehen. »Du betrügst mich, ich fühle es, dass du mich betrügst.« »Aber Wolodja, wie soll ich denn meine Kinder verlassen? Matwejka ist noch ganz klein, er braucht mich rein körperlich noch.« »Du bist Christin … Du musst gehorsam sein und deinem Mann folgen.« Da hat sie sich ein schwarzes Kopftuch umgebunden und lebt nun in der Nähe des Gefängnisses. Arbeit hat sie keine, aber der Priester der Kirche am Ort hat sie aufgenommen. Sie putzt dort. »Und Wolodja ist ganz in der Nähe … Ich spüre es … ich spüre, dass er ganz in der Nähe ist …« »Hab keine Angst, schreibe ich ihm, ich bin bei Dir …« Seit sieben Jahren schreibt sie ihm jeden Tag …
    … Sobald sie verheiratet waren, verlangte er von ihr, sie solle an alle Instanzen schreiben: Er sei ein kinderreicher Vater, er müsse sich um die Kinder kümmern. Das sei seine Chance, freizukommen. Aber Lena ist ein reines Wesen … Sie setzt sich hin, will schreiben, aber sie kann nicht. »Er hat doch einen Menschen getötet. Eine schlimmere Sünde gibt es nicht.« Dann macht er ihr wütende Szenen. Er brauche eine andere Frau. Eine, die reich sei und Beziehungen habe. Diese verdammte Idealistin habe er längst satt …
    … Er ist mit achtzehn ins Gefängnis gekommen … Damals gab es die Sowjetunion noch, das sowjetische Leben. Und die sowjetischen Menschen. Es herrschte Sozialismus. Er hat keine Ahnung, was für ein Land das heute ist. Wenn er rauskäme, würde er über dieses neue Leben heftig stolpern! Es würde ihn mit aller Wucht treffen – er hat keinen Beruf, seine Angehörigen haben sich von ihm abgewandt. Und er ist voller Wut. Im Gefängnis hat er sich einmal bei der Arbeit mit seinem Kollegen gestritten und hätte ihm fast die Kehle durchgebissen. Lena weiß, dass sie mit ihm fortgehen müsste, weit weg von den Menschen. Sie träumt davon, mit ihm in einem Forstbetrieb zu arbeiten. Im Wald zu leben. Wie sie sagt: Unter Bäumen und stummen Tieren …
    … Sie hat mehrfach zu mir gesagt: »Seine Augen sind so kalt geworden, so leer. Irgendwann wird er mich töten. Ich weiß, wie seine Augen aussehen werden, wenn er mich tötet.« Aber es zieht sie dorthin, dieser Abgrund zieht sie an. Warum? Habe ich so etwas nicht auch an mir selbst beobachtet? Das Dunkle zieht uns an …
    … Als wir uns das letzte Mal trafen, sagte sie zu mir: »Ich will nicht mehr leben! Ich kann nicht mehr!« Sie war wie im Koma – weder tot noch lebendig …
     
    Wir beschlossen, gemeinsam zu Lena zu fahren. Aber sie ist plötzlich verschwunden. Sie meldet sich bei niemandem. Es geht das Gerücht, sie lebe jetzt in einer abgeschiedenen Einsiedelei. Zusammen mit Drogenabhängigen und Aids-Kranken … Dort legen viele ein Schweigegelübde ab.
     
     
     
    XLVIII dobrota – russ. Güte.

VOM MUT UND DANACH
     
Tanja Kuleschowa, Studentin, 21 Jahre alt
     
Chronik der Ereignisse
     
    Am 19. Dezember fanden in Weißrussland Präsidentschaftswahlen statt. Niemand rechnete mit ehrlichen Wahlen, das Ergebnis stand von vornherein fest: Gewinner wird Präsident Lukaschenko, der das Land bereits seit sechzehn Jahren regiert. Im
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