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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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Hakan
Nesser
     
    Die
Perspektive des Gärtners
     
    Roman
     
    Aus
dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
     
     
    Teil I
     
    1
     
    Mit
vier vollgepackten Koffern und zwei leeren Herzen kamen wir nach New York.
    Auf
dem kurzen Weg zwischen der Carmine Street
und der Bibliothek in der Leroy Street kommt mir diese Formulierung in den
Sinn. Vielleicht ist es nicht gerade die beste Einleitung, aber ich habe schon
seit ein paar Tagen um einen Eingangssatz gerungen. Als wenn es nur um diese
simple Sache ginge - um einen Schlüssel, der die Erzählung öffnet, ein Siegel,
das gebrochen werden muss, oder
eine Art Zaubertrick, der, wenn man ihn erst einmal durchschaut hat, alles
andere in die richtigen Bahnen lenkt.
    Aber
dem ist nicht so. Erzählungen müssen auf jeder Seite neu geboren werden,
unablässig, unter Schmerzen und manchmal auch unter Freuden, Zeile für Zeile,
Zentimeter für Zentimeter, und es gibt keine Abkürzung. Und genau so will ich
vorgehen, wenn ich jetzt einen Bericht darüber schreibe, was in den letzten
Jahren passiert ist und was genau in diesem Moment passiert, und das wird nicht
einfach sein. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass es überhaupt irgendwohin
führt, aber manchmal hat man keine andere Wahl.
    Ich
gebe keinerlei Versprechen. Vielleicht wird es eine zusammenhängende
Geschichte, vielleicht auch nicht.
     
    Es
sind jetzt ein paar Wochen vergangen, seit ich diese kleine Zweigstelle der New
York Public Library gefunden habe - The Hudson Park Branch steht an der Wand zum James Walker Park hin -, und seitdem
sitze ich jeden Tag ein paar Stunden lang in den schmutzig braunen,
heruntergekommenen Räumen. Nicht immer zur gleichen Zeit, es gibt
unterschiedliche Öffnungszeiten, nur sonntags haben sie durchgehend
geschlossen. Aber es ist auf jeden Fall der richtige Ort, das spüre ich
deutlich; die Umgebung ist mir beim Schreiben immer wichtig gewesen, und in
diesem Fall ist sie noch wichtiger als sonst.
    Es
ist Herbst. Ende September, aber immer noch sehr warm. Die Leute reden die
ganze Zeit vom Treibhauseffekt, es ist jetzt das dritte Jahr in Folge so, und
die New York Times, die
ich mit der Beharrlichkeit eines Idioten täglich kaufe und lese, kommt in
regelmäßigen Abständen auf dieses Thema zurück. Der ehemalige
Präsidentschaftskandidat Gore hat in dieser Angelegenheit sogar einen Oscar
bekommen, und vielleicht stimmt es ja. Vielleicht ist unsere Erde dabei,
überzukochen und unterzugehen.
    Was
uns persönlich betrifft, Winnie und mich, so haben wir unseren Untergang
schneller erlebt. Seit der Katastrophe sind zwei Sommer vergangen, siebzehn
Monate insgesamt. Anfang August sind wir in New York angekommen, nach ein paar
Tagen haben wir die Wohnung gefunden, in der wir jetzt in Greenwich
Village zu Hause sind, nachdem wir ein schweineteures
und inakzeptables Rattenloch nach dem anderen verworfen hatten. Die kleine
Dachwohnung, für die wir uns schließlich entschieden haben, ist ebenfalls
schweineteuer, aber sie ist zumindest sauber und bewohnbar.
    Vier
vollgepackte Koffer, zwei leere Herzen. Die Koffer haben wir
geleert, ihre Inhalte in schmale Schränke und wacklige Kommoden gestopft, mit
unseren Herzen ist es etwas anderes. Winnie sagt, sie wolle wieder ernsthaft
anfangen zu malen, aber sie muss bei
diesem Schaffensprozess alleine sein, aus diesem Grund begebe ich mich jeden
Tag für ein paar Stunden außer Haus. Natürlich brauche auch ich die
Einsamkeit, ich muss sehen,
dass ich die Worte wiederfinde, eines aufs andere lege, Satz an Satz füge und
schließlich etwas zustande bringe, was aus mehr als einer traurigen, trostlosen
Wanderung in immer den gleichen Kreisen besteht.
    Jede
Geschichte sucht ihre Form und findet sie.
    Oder
sie stirbt.
    Mein
Name ist Erik Steinbeck, um es gleich vorweg zu sagen. Zum jetzigen Zeitpunkt
bin ich 38 Jahre alt. Seit einem guten Jahrzehnt kann ich mich Schriftsteller
nennen, aber jetzt sind bereits drei Jahre vergangen, ohne dass ich etwas Neues
produziert hätte. Fünf Romane, das ist meine ganze Ausbeute, aber zwei von
ihnen sind erfolgreich verfilmt worden, und so werden wir finanziell
zurechtkommen, auch wenn ich in den nächsten Jahren kein einziges Wort zu
Papier bringe. Das ist allerdings auch schon die einzige Prognose, die ich
bezüglich der Zukunft abzugeben wage. Wir werden nicht verhungern vor der
letzten Seite dieses zweifelhaften Romans.
    Meine
Ehefrau Winnie ist bildende Künstlerin, in gewisser Weise ist sie anerkannter
als ich und
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