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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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setzen.«
     
    »In unserer Familie wird ein altes Heft aufbewahrt. Darin hat mein Großvater für seine Kinder und Enkel seine Lebensgeschichte aufgeschrieben. Hat erzählt, wie er die Stalinzeit erlebt hat. Er wurde verhaftet und gefoltert: Sie haben ihm eine Gasmaske aufgesetzt und die Luftzufuhr blockiert, sie haben ihn ausgezogen und ihm einen Eisenstab oder eine Türklinke in den Anus geschoben … Ich ging in die neunte Klasse, als meine Mutter mir dieses Heft zu lesen gab. ›Du bist jetzt ein großes Mädchen. Du musst das wissen.‹ Doch ich verstand nicht – wozu?«
     
    »Wenn es wieder Lager geben sollte, finden sich auch Wachleute. Sogar jede Menge! An einen erinnere ich mich gut … Wenn ich ihm in die Augen schaute, wirkte er wie ein ganz normaler junger Mann – aber er hatte Schaum vorm Mund. Sie bewegten sich wie Schlafwandler, wie in Trance. Sie prügelten wild drauflos. Ein Mann fiel hin, da legten sie einen Schild auf ihn und tanzten darauf herum. Große Kerle … an die zwei Meter groß … Achtzig bis hundert Kilo Lebendgewicht, sie werden extra auf Kampfgewicht rausgefüttert. OMON und Sondertruppen – das sind ausgewählte Jungs … wie die Opritschniki bei Iwan dem Schrecklichen 2 . Ich möchte nicht denken, dass sie das alles freiwillig tun, das möchte ich auf keinen Fall denken. Auf gar keinen Fall. Es ist eben ihr Job, von irgendwas müssen sie ja leben. So ein Junge … Er hat nichts als die Schule und die Armee hinter sich, verdient aber mehr als ein Unidozent. Und später … da wird es sein wie immer … ganz bestimmt … Später werden sie sagen, sie hätten nur Befehle ausgeführt, sie hätten nichts gewusst, sie hätten nichts damit zu tun. Sie finden schon heute tausend Rechtfertigungen: ›Wer soll denn meine Familie ernähren?‹ ›Ich habe einen Eid geleistet.‹ ›Ich konnte doch nicht aus dem Glied raus, selbst wenn ich es gewollt hätte.‹ Das kann man mit jedem Menschen machen. Zumindest mit vielen …«
     
    »Ich bin erst zwanzig. Wie soll ich weiterleben? Ich habe das Gefühl, wenn ich in die Stadt gehe, werde ich nicht wagen, den Blick zu heben …«
     
    »Bei euch ist ja vielleicht Revolution,
    aber hier bei uns ist Sowjetmacht.«
     
    Freigelassen wurden wir mitten in der Nacht. Journalisten, Freunde – alle warteten vor dem Gefängnis, doch wir wurden mit einem Häftlingstransporter an den Stadtrand gebracht und dort hinausgesetzt. Ich landete irgendwo in Schabany. An einer Baustelle. Ich hatte wirklich Angst. Ich stand verwirrt da und ging auf Lichter zu. Ich hatte kein Geld, der Akku meines Mobiltelefons war längst leer. In meinem Portemonnaie lag nur eine Zahlungsaufforderung, die hatten wir alle erhalten – für den Aufenthalt im Gefängnis. Die Summe war so hoch wie mein Stipendium für einen ganzen Monat … Ich weiß gar nicht … Meine Mutter und ich kommen gerade so über die Runden. Mein Vater ist gestorben, als ich in die sechste Klasse ging, da war ich zwölf. Mein Stiefvater vertrinkt regelmäßig sein gesamtes Gehalt. Er ist Alkoholiker. Ich hasse ihn, er hat mir und meiner Mutter das ganze Leben versaut. Ich bemühe mich ständig, etwas dazuzuverdienen: Ich trage Werbung aus, im Sommer verkaufe ich an einem Stand Obst und Eis. Mit diesen Gedanken lief ich durch die Nacht … Hunde streunten herum … nirgendwo ein Mensch … Ich war irrsinnig froh, als neben mir ein Taxi hielt. Ich nannte die Adresse meines Wohnheims, sagte aber: »Ich habe kein Geld.« Der Taxifahrer wusste sofort Bescheid. »Aha, eine Dekabristin L .« (Wir waren ja im Dezember verhaftet worden.) »Steig ein. Ich hab schon so eine wie dich aufgesammelt und nach Hause gefahren. Wieso entlassen sie euch mitten in der Nacht?« Er fuhr mich zum Wohnheim und hielt mir eine Standpauke: »Das ist doch alles Blödsinn! Absoluter Blödsinn! Ich habe 1991 in Moskau studiert und bin auch auf Demonstrationen gegangen. Wir waren mehr als ihr. Wir haben gesiegt. Und wir bildeten uns ein, jeder würde eine Firma aufmachen und reich werden. Und was ist jetzt? Unter den Kommunisten war ich Ingenieur, und jetzt fahre ich Taxi. Die einen Schweine haben wir vertrieben, und an ihrer Stelle sind andere gekommen. Ob Schwarze, Graue oder Orange – die sind alle gleich. Macht verdirbt bei uns jeden. Ich bin Realist. Ich glaube nur an mich und an meine Familie. Während die nächsten Idioten die nächste Revolution machen, muss ich Geld verdienen. Diesen Monat brauchen meine Töchter neue Jacken,
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