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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition)
Autoren: Lucia Puenzo
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1
    Eine Mixtur aus Natriumchlorid und Magnesiumnitrat, die mit unendlicher Geduld in zwei Augäpfel gespritzt wurde, sollte den Lauf der Wissenschaft an diesem Tag für immer verändern. Die Massensterilisationen, die Eingriffe an lebenden Menschen, die fehlgeschlagenen Versuche, mithilfe subkutaner Injektionen auf die Hautfarbe einzuwirken, ja selbst die Nacht, in der er glaubte, endlich sei es ihm geglückt, die Venen der Zwillinge zu verbinden, in der er glaubte, er habe siamesische Zwillinge erschaffen, bis die beiden dann wie gestrandete Fische nach Luft schnappten … All diese gescheiterten Projekte wären vergessen, wenn es ihm gelang, die Augenfarbe dieses Jungen zu verändern. Tausendmal hatte er sich vorgestellt, wie er den einen rumänischen Zwilling, bei dem die Tinte die linke Iris verfärbt hatte (die rechte war von einer allzu starken Dosis verätzt), auf Kongresspodien vorführte; die Sehnerven von allzu viel Chemie gelähmt, hing der Kleine in den Armen des Mannes, der ihm tausendundeine Spritze gesetzt hatte, um ihn dem Mittelmaß zu entreißen. Er stellte sich ihn mit geschorenem Kopf vor, damit die dunklen Haare sein künftiges arisches Äußeres nicht überdeckten. Doch noch bevor er begriff, dass das nur ein Traum war, wurden die Bilder aus diesem ersten Leben, in dem alles möglich war, von der Gewissheit in den Schatten gestellt, sein Sieg sei bloß der Anfang bevorstehender Transformationen (die ein ganzes Volk genetisch umformen sollten), auch wenn er bislang nichts als zerschundene Häute, Fälle von Gangrän und Amputationen vorzuweisen hatte. Nicht umsonst hatte man Millionen in ihn investiert. Der Reinerhaltung des Blutes und der Gene wegen. Darum nämlich ging es in diesem Krieg: um Rassenreinheit oder Rassenmischung.
    Aufgeregt wie ein Kind, das einen weiteren Tag im Vergnügungspark verbringen darf, setzte er sich aufs Bett. Doch die karge Ausstattung des Zimmers holte ihn in seine jämmerliche Gegenwart zurück. Die immer schlaffer werdende Haut, die an Spannkraft verlierenden Muskeln waren die eines alten Mannes. Sein ganzes Leben war grau geworden, Tag und Nacht die immer gleiche Routine, bis zum Erbrechen, und dabei die heimliche Hoffnung, es würde irgendetwas passieren. Jemand würde ihm mitteilen, sie hätten die Suche nach ihm endlich aufgegeben. Er hatte sein Leben der Aufgabe gewidmet, die Welt von Ratten zu befreien, und nun verwandelte er sich selbst in eine, menschenscheu und feige, ganz am Rande dieser Welt.
    Das kann noch nicht alles gewesen sein
, dachte er.
    Als er gewarnt wurde, man sei ihm auf den Fersen, zögerte er keinen Augenblick: Er fror die bakteriologischen Proben ein, die er in den letzten Monaten zu Organismen im Endstadium herangezüchtet hatte, verließ das Labor, fuhr zur Bank, leerte sein Konto und verließ die Stadt. Geldsorgen würden ihn jedenfalls nie plagen: Neben dem unerschöpflichen Familienvermögen gab es da noch die Zuwendungen seines ewigen Mentors Professor von Verschuer. Am Kaiser-Wilhelm-Institut in Dahlem hatte dieser sich stets dafür eingesetzt, dass er die für seine Arbeit notwendige Unterstützung erhielt; dafür war er der Erste, der von den Ergebnissen seiner Experimente erfuhr. Und der Professor war nicht der einzige anonyme Gönner, der zu seinem Wohlstand beitrug. Viele glaubten noch an ihn und unterstützten ihn aus der Ferne, schickten Briefe, in denen sie ihn wie einen Messias anredeten.
    An einer Tankstelle besorgte er sich Proviant und eine Karte von Argentinien, dann rief er seine Frau an. Er sagte ihr nicht, wohin er fahren würde. Er werde eine Weile fort sein, erklärte er nur, und sie solle sich ein paar Wochen bei einem befreundeten Ehepaar einquartieren. Ohne sie etwas erwidern zu lassen, legte er auf. Nach zehn Stunden Fahrt machte er bei einem außerhalb von Chacharramendi gelegenen Motel Halt – wobei man bei diesem Ort genau genommen nicht von innerhalb und außerhalb sprechen konnte. Chacharramendi endete genau dort, wo es begann. Er blieb auf seinem Zimmer, bis es Abend wurde. Dort holte er Wörterbuch und Heft heraus; obwohl sein Spanisch fließend war, lernte er jeden Tag weiter, im Selbststudium. Wie jeder Überlebende wusste er, dass er manche Spuren auf der Stelle verwischen musste. Sein Geist war weniger der eines Wissenschaftlers als der eines Soldaten, dem man von Anfang an militärische Disziplin eingeprügelt hatte. Kein Tag verging, an dem er nicht seine schriftlichen und mündlichen Übungen
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