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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition)
Autoren: Lucia Puenzo
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die Stimme erhob, um sie zu verteidigen … Sie waren ganz allein.
    Er würde so nicht enden, das schwor er sich.

2
    Im Morgengrauen, nach den zwei hundert Armbeugen, mit denen er sich den Rest des Schlafmittels vom Abend davor austrieb, fuhr er zu einer Tankstelle gleich hinter der Wüstenstraße. Als er aufschaute, sah er das Mädchen vom Vortag aus einem mit Koffern vollgestopften Citroën herausklettern und auf den kleinen Laden zulaufen. Ohne dass sie es bemerkte, fiel ihr auf halber Strecke ihre Puppe hinunter (es war die naturgetreue Nachbildung eines sechs Monate alten weiblichen Säuglings) und landete kopfüber auf dem Asphalt. Er ging hinüber zu der Puppe, sein Schatten legte sich über ihren perfekten Körper: Der Mund war halb geöffnet, durch die mit beneidenswert ruhiger Hand gezogenen Lippen sah er eine winzige rosafarbene Zunge hervorlugen. Er bückte sich nach ihr, legte eine Hand in den Nacken, die andere um die linke Ferse, wie er es bei so vielen anderen lebendigen Puppen getan hatte. So untersuchte er ihre Vorder- und ihre Rückseite: Es handelte sich um ein Porzellangeschöpf, die Haut so fein geschliffen, dass sie sich samtig anfühlte wie die eines Neugeborenen. Sein Medizinerauge entdeckte ein paar Unvollkommenheiten, winzig kleine Makel, die belegten, dass die Puppe Handarbeit war (auch wenn man zweifellos eine importierte Puppe als Muster genommen hatte, eine, wie er sie in den Armen so vieler kleiner deutscher Mädchen aus der Oberschicht gesehen hatte). Dann vernahm er ein beinahe unhörbares
Ticktack
. Er hielt sich die Puppe ans linke Ohr … Konnte das eine Uhr sein? Ja, tatsächlich, es war eine Uhr. Im Innern des Körpers versteckt, ganz fest und mitten in der Brust, saß sie und tickte. Der Effekt war verwirrend, die Puppe hatte also ein mechanisches Herz. Noch nie hatte er eine Porzellanpuppe mit solcher Aufmerksamkeit betrachtet: Es war ein Kunstwerk, das dem Leben allzu nahe kam.
    »Das ist meine.«
    Er lächelte und sah auf. Für ihn, der genauer hinzuhören verstand, schwang in der Strenge einer Kinderstimme stets ein Hauch von Schrecken mit. In dieser Stimme hier klang noch dazu, kaum merklich, der missgebildete Körper an, zu dem sie gehörte; obgleich tiefer als vermutet, war sie doch zu nasal, zu hoch und brüchig. Die Hände in die Hüften gestemmt, hatte sich Lilith mit ihren ein Meter dreißig jetzt vor ihm aufgebaut, während er sich noch in der Hocke befand. Er war es gewohnt, Körper mit nur einem Blick zu erfassen: Das Mädchen war etwa acht Jahre alt, fünfunddreißig Kilo schwer; gute Ernährung, perfektes Gebiss, alte, aber saubere Kleidung, keine Spuren von Vitaminmangel an Haut, Haar und Nägeln.
    »Woher hast du die?«
    »Mein Baby?«
    »Wo ihr sie gekauft habt, meine ich.«
    »Wir haben sie nicht gekauft. Mein Papa hat sie gemacht.«
    »Dein Vater macht Puppen?«
    »Manchmal.«
    »Und wie heißt sie denn?«
    Lilith hatte sofort Vertrauen zu dem Unbekannten gefasst. Sie war nicht die Erste, die der Sanftheit seiner Stimme verfiel. Sie strahlte, als sie sah, wie fasziniert er ihre Puppe begutachtete.
    »Herlitzka.«
    »Her …?«
    » …
litzka

    »Der ist wohl russisch.«
    »Es ist ein Mädchen.«
    »Ich meine den Namen, ist das ein russischer Name?«
    »Nein, Herlitzka ist Argentinierin. So wie ich.«
    »Ach so«, erwiderte er mit seinem deutschen Akzent.
    »Geben Sie sie mir jetzt zurück?«
    »Aber sicher. Sie gehört doch dir.«
    Ganz behutsam, als wäre es ein Neugeborenes, legte der Deutsche dem Mädchen die Puppe in den Arm.
    »In ihr ist eine Uhr.«
    »Ein Herz.«
    »Und wann hört es auf zu schlagen?«
    »Das dauert noch.«
    José nickte und riss sich zusammen, um nicht weiter nachzubohren.
    »Ist Herlitzka deine Tochter?«
    Lilith zögerte einen Augenblick, als müsste sie erst überlegen, dann nickte sie. Da fiel ihr die mütterliche Ermahnung, sich nicht von ihrem Bruder zu entfernen, wieder ein:
    »Übrigens sollte ich lieber nicht mit Ihnen sprechen.«
    »Wieso denn nicht?«
    »Ich darf nicht mit Fremden sprechen«, antwortete sie mit einem süßen, perlmutternen Nymphenlächeln.
    »Na, dann verabschieden wir uns jetzt wohl besser.«
    Das Mädchen stimmte zu, rührte sich aber nicht vom Fleck.
    »Mama behauptet, man braucht mir eine Sache nur zu verbieten, damit ich sie mache.«
    »Und, stimmt das?«
    »Fast.«
    »Was daran stimmt nicht?«
    »Manche Sachen würde ich so oder so machen, auch wenn sie nicht verboten wären.«
    »Würdest du
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