Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falsches Blut

Falsches Blut

Titel: Falsches Blut
Autoren: Chris Culver
Vom Netzwerk:
1
    Nichts war schlimmer, als Menschen über den Tod eines Angehörigen informieren zu müssen. Die meisten wussten sofort, was los war, wenn sie mich vor der Tür stehen sahen. Erst versuchten sie immer, ruhig und beherrscht zu bleiben, aber nach ein paar Minuten brachen sie schließlich doch zusammen. Fast alle, durch die Bank. Ein Blick in ihre Augen genügte. Sie sahen mich an und wussten instinktiv, was gleich kommen würde. Danach ging ich nach Hause, als wäre nichts geschehen. Vielleicht umarmte ich meine Familie ein bisschen fester als sonst, doch ansonsten drehte sich die Welt für mich einfach weiter. Die meisten hassten mich für das, was ich tun musste, und ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Für mich als Muslim war es eine schwere Sünde, die Erinnerung an ihre Gesichter mit Alkohol zu vertreiben, aber das war mir egal, solange mir das Trinken zu ein paar Stunden ungestörtem Schlaf verhalf.
    Ich fuhr in meinem Dienstwagen, einem Ford Crown Victoria, vor dem Haus meiner Schwester vor, schaltete den Motor aus und holte einige Male tief Luft, während mich die vertraute Beklommenheit überkam. Als ich mich bereit erklärt hatte, diese Aufgabe zu übernehmen, wusste ich, dass mir damit einer jener Abende bevorstünde, die ich am liebsten für immer aus meinem Gedächtnis streichen würde– das schon–, aber erst jetzt wurde mir so richtig klar, weshalb genau ich hier war. Der Schmerz legte sich wie ein Stück Stacheldraht um meine Eingeweide.
    Ich öffnete die Wagentür.
    Meine Schwester lebte mit ihrem Ehemann in einem knapp vierhundert Quadratmeter großen Altbau, der bequem meine gesamte Großfamilie hätte beherbergen können. Dass die beiden es jedoch vorzogen, für sich zu bleiben, schätzte ich sehr– denn ich lebte nur einen Steinwurf entfernt und in weit bescheideneren Verhältnissen.
    Mein Schwager Nassir lächelte und legte mir die Hand auf die Schulter, erstarrte jedoch, als ich nicht auf seine Geste reagierte.
    » Was ist los? « , fragte er.
    » Wir reden gleich « , antwortete ich. » Wo ist Rana? «
    » In der Küche. « Nassir machte keine Anstalten, die Hand von meiner Schulter zu nehmen. » Komm rein « , sagte er und schloss die Tür hinter mir. Das Erdgeschoss verströmte das typische Flair eines gepflegten Altbaus, mit hellen, großzügigen Räumen und auf Hochglanz polierten Holzdielen, deren Patina sich nur durch achtzig Jahre kontinuierlicher Pflege einstellt. Nassir schob mich den Korridor entlang und in die Küche im hinteren Teil des Hauses.
    Rana stand vor einem Gasherd, der groß genug war, um die Gäste eines Hotels auf dem Las Vegas Strip zu bekochen. Der Geruch nach Knoblauch und Hefe hing in der Luft.
    » Ash! « Auch Rana lächelte. » Ich dachte, du und Hannah wolltet heute Abend ausgehen. «
    » Wollten wir auch « , sagte ich. » Bitte setzt euch. Ich muss mit euch reden. «
    Nassir und Rana gehorchten. Im Gegenzug brach ich ihnen so behutsam das Herz, wie ich nur konnte.
    Nassir und Rana hatten die Nachricht bemerkenswert tapfer aufgenommen. Sie waren nicht in Tränen ausgebrochen, hatten mich jedoch gebeten, sie allein zu lassen. Doch wenn ich jetzt nach Hause fuhr, würde ich meiner Frau beichten müssen, weshalb ich unsere Pläne für den Hochzeitstag über den Haufen geworfen hatte. Und dafür fehlte mir im Augenblick einfach die Kraft. Also fuhr ich ins Büro. Es war zwar nicht mein Fall, aber dank meiner Freunde im Dezernat erwartete mich ein Stapel 20x25er-Fotos mit dem dazugehörigen Papierkram auf meinem Schreibtisch, als ich eintraf.
    Ich überflog den Bericht. Der Notruf war um achtzehn Uhr eingegangen. Der Anrufer hatte erklärt, er habe im Gästehaus von einem der reichsten Männer des Staates Indianapolis eine weibliche Person von etwa sechzehn bis achtzehn Jahren mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegend vorgefunden. Der erste Beamte am Tatort hatte keinen Puls feststellen können und ein mutmaßliches Tötungsdelikt gemeldet, worauf die übliche Maschinerie angelaufen war: Innerhalb einer halben Stunde waren fünf Experten von der Spurensicherung für die Tatortanalyse eingetroffen, während Detective Olivia Rhodes erste Zeugenbefragungen durchgeführt hatte.
    Ich sah mir die durchnummerierten Fotos mit der dazugehörigen Beschreibungsliste an. Es handelte sich um Weitwinkelaufnahmen vom Tatort– eine hellbraune Küche und ein Wohnzimmer mit einem Fernseher, bequemen Clubsesseln und einem Gartentisch. Auf einer Anrichte hinter dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher