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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition)
Autoren: Lucia Puenzo
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denn auch mit mir sprechen, wenn es nicht verboten wäre?«
    »Ich glaub schon.«
    »Du bist dir aber nicht ganz sicher …«
    »Doch. Ich bin mir sicher.«
    Sie hatte keine Angst vor ihm. Als der Unbekannte sie lächelnd von Kopf bis Fuß betrachtete, wandte sie nicht einmal den Blick ab. Und als wäre im Anfang der Schlüssel zu allem zu finden, fragte er noch einmal:
    »Wie bist du denn auf den Namen gekommen?«
    »Herlitzka war der Lieblingsname meiner Großmutter. Eigentlich sollte ich so heißen, aber mein Papa war dagegen.«
    »Und gab dir den Namen Lilly …«
    »Lili
th
, mit th«, sprach sie, entzückt, ihm widersprechen zu können. »Das bedeutet Monster der Nacht.«
    Es bedeutet weitaus mehr als das
, dachte der Deutsche bei sich.
    Doch jetzt war keine Zeit, dem Mädchen die mächtige Bedeutung seines Namens darzulegen. Ihre Begegnung würde jeden Moment unterbrochen werden, und dass sie so flüchtig war, machte sie noch um einiges bezaubernder. Er begriff nun, wieso ihn Liliths Abnormität so verwirrte: Sie war kaum wahrnehmbar und prägte ihren Körper doch auf unverkennbare Weise. So waren die Arme und Beine nur knapp länger als die eines normal proportionierten Körpers; der Kopfumfang betrug wohl zwei Zentimeter zu viel. Augen, Mund und Ohren wiesen dasselbe köstliche Symptom auf. Das Ergebnis war unheimlich, machte das Mädchen zu einem mythologischen Wesen, zu einer Mischung aus Nymphe und Kobold. Jäh unterdrückte der Deutsche den Impuls, dem Kind die Hände auf den Schädel zu legen, um ihn abzutasten.
    »Ich bin eh zu groß, um mit Puppen zu spielen.«
    »Zu groß?«
    »Was denken Sie denn, wie alt ich bin?«
    »Neun«, behauptete er großzügig und gab ihr ein Jahr dazu.
    »Ich bin aber schon zwölf.«
    »Oh, entschuldige bitte.«
    »Stört mich nicht. Ich bin es gewohnt.«
    »Was bist du gewohnt?«
    »Älter zu sein, als die Leute denken.«
    Ohne ihren Blick von seinen Augen abzuwenden, streckte Lilith die Hand nach seinem Mund aus, als wolle sie seine Zähne berühren. Dann bohrte sie mit unkeuscher, frecher Hand den Zeigefinger durch seine Lippen und legte ihn auf die einen halben Millimeter breite Lücke, die zwischen den Schneidezähnen des Fremden klaffte.
    »Sie haben da ein Loch zwischen den Zähnen.«
    »Ich weiß.«
    »Sehen Sie? Sie sind auch nicht perfekt.«
    Es hieß, die äußerst auffällige Lücke zwischen den Schneidezähnen sei die einzige Unvollkommenheit, die er sich gestattete, sein besonderes Merkmal. Dennoch hatte niemand es jemals gewagt, sie beim Namen zu nennen, geschweige denn, sie zu berühren. Keine der Frauen, die sich seinem Mund genähert hatten, sei es aus freien Stücken oder unter Zwang, hatte je diese Spalte mit der Zunge berührt. Lilith lachte, ein irrer Glanz lag in ihrem Blick (selbst in der Farbigkeit ihrer zwischen Grau und Gelb changierenden Iris war sie einzigartig), und plötzlich kam ihm etwas an diesen Augen viel älter vor. Er überlegte, ob sie älter sein konnte als zwölf. Sie schien sich jedenfalls im klaren darüber zu sein, was sie da tat. Sie rieb ihre feuchte Zeigefingerkuppe an der des Daumens und verschmierte die Spucke des Fremden in der Handinnenfläche, als sei nichts dabei. Diese Geste erregte ihn unerwartet stark, sehr viel heftiger als die intimen Treffen mit der einen oder anderen Angestellten aus der pharmazeutischen Firma, für die er arbeitete.
    »Können Sie durch die Lücke pfeifen?«
    »Pfeifen?«
    Der Klang des Wortes gefiel ihm, doch die Bedeutung erfasste er erst, als Lilith die Lippen zusammenpresste und zu pfeifen begann. Trotz der Jahre, die er in Argentinien verbracht hatte, wies sein Wortschatz noch immer unerwartete Lücken auf. Er liebte es zu pfeifen – und doch kannte er die spanische Bezeichnung dafür nicht.
    »Ach so,
pfeifen
…«, erwiderte er und stieß einen Pfiff aus.
    Wie auf Befehl kam ein feuchter Wind auf, umwehte die beiden und wirbelte, als die ersten unscharfen Pfeiftöne erklangen, den Rock von Liliths geblümtem Kleid auf. Der Mann hingegen hatte nichts an, woran der Wind hätte rütteln können. Bei ihm lag alles eng an, alles an ihm war glatt und geschniegelt. Er sah, wie Lilith mit einer Hand geschickt ihr flatterndes Kleid bändigte, sich mit der anderen eine Haarsträhne, die ihr das Auge verdeckte, aus dem Gesicht strich und dabei ihren Atem klangvoll durch einen schmalen Spalt zwischen zwei Milchzähnen entweichen ließ. Es war nicht das erste Mal, dass ihn ein monströses Wesen auf
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