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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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es nachts, es war furchtbar stickig. Wir lagen lange wach und redeten. In den ersten Tagen über Politik, später nur noch über die Liebe.
Gespräche in der Zelle
     
    »Ich möchte nicht denken, dass sie das alles freiwillig tun.«
     
    »Das läuft immer nach dem gleichen Szenario … Es ist ein Kreislauf. Das Volk ist eine Herde. Eine Herde Antilopen. Und die Macht ist eine Löwin. Die Löwin wählt ein Opfer aus der Herde aus und tötet es. Die übrigen Antilopen grasen weiter, schielen zu der Löwin, die sich das nächste Opfer sucht, und atmen erleichtert auf, wenn die Löwin das Opfer niederstreckt: ›Nicht ich! Nicht ich! Ich kann weiterleben!‹«
     
    »Ich mochte die Revolution im Museum … Ich war ein romantisches Mädchen. Ich habe Märchen gespielt. Ich bin von mir aus auf den Platz gegangen, mich hat niemand dazu aufgefordert. Ich wollte sehen, wie eine Revolution gemacht wird. Dafür wurde ich mit dem Gummiknüppel auf Kopf und Nieren geschlagen. Auf der Straße waren vor allem junge Leute, es war eine ›Revolution der Kinder‹, so wurde sie genannt. So heißt es heute. Unsere Eltern waren zu Hause geblieben. Sie saßen in den Küchen und redeten darüber, dass wir hinausgegangen waren. Machten sich Sorgen. Sie hatten Angst, aber wir sind ja ohne sowjetische Erfahrungen aufgewachsen. Die Kommunisten kannten wir nur aus Büchern, wir hatten keine Angst. In Minsk leben zwei Millionen Menschen, und wie viele waren auf die Straße gegangen? Rund dreißigtausend … Und zugesehen haben uns noch mehr: Die Leute standen auf den Balkons, Autofahrer hupten grüßend, spornten uns an: Los, Kinder! Los! Immer sind die in der Überzahl, die mit einer Dose Bier vorm Fernseher sitzen. Darum ist das alles … Solange nur wir intellektuellen Romantiker auf die Straße gehen, ist es keine Revolution …«
     
    »Meinen Sie, die Basis für das alles sei die Angst? Die Miliz mit ihren Gummiknüppeln? Sie irren sich. Der Henker kann sich mit seinem Opfer einigen. Das war zu den kommunistischen Zeiten so, und das ist so geblieben. Es gibt eine Art stilles Übereinkommen. Einen Vertrag. Einen großen Pakt. Die Menschen verstehen alles, aber sie schweigen. Dafür wollen sie ein anständiges Einkommen haben, sich einen gebrauchten Audi kaufen und Urlaub in der Türkei machen. Da versuch mal, mit ihnen über Demokratie und über Menschenrechte zu reden … Das sind böhmische Dörfer! Diejenigen, die die Sowjetzeit erlebt haben, erzählen dir sofort: ›Unsere Kinder dachten, Bananen würden in Moskau wachsen. Und schau dir an, wie es jetzt ist … Hundert Sorten Wurst! Welche Freiheit brauchen wir noch?‹ Viele wollen noch heute die Sowjetunion zurück, aber mit jeder Menge Wurst.«
     
    »Ich bin zufällig hierhergeraten … Ich war mit Freunden auf dem Platz, ich wollte dabei sein, inmitten all der Luftballons und Plakate. Na ja, ehrlich gesagt … da war ein Typ, der mir gefiel. Eigentlich bin ich eine gleichgültige Zuschauerin. Ich habe jegliche Politik aus meinem Kopf verbannt. Echt, ich hab genug von diesem Kampf zwischen Gut und Böse …«
     
    »Sie scheuchten uns in eine Baracke. Die ganze Nacht standen wir da, mit dem Gesicht zur Wand. Am Morgen hieß es: ›Auf die Knie!‹ Wir knieten uns hin. Dann: ›Auf! Hände hoch!‹ Mal Arme hinter den Kopf, mal hundert Kniebeugen. Oder auf einem Bein stehen … Warum machten sie das? Wozu? Wenn du sie fragst, kriegst du keine Antwort. Sie durften es … sie hatten plötzlich Macht … Einigen Mädchen wurde schlecht, sie fielen in Ohnmacht. Als sie mich das erste Mal zum Verhör holten, lachte ich dem Ermittler ins Gesicht, bis er sagte: ›Pass auf, Kleine, ich fick dich gleich in alle Löcher, und dann werf ich dich zu Kriminellen in die Zelle.‹ Ich habe Solschenizyn nicht gelesen, und der Ermittler bestimmt auch nicht. Aber wir kannten das alles …«
     
    »Mein Ermittler war ein gebildeter Mann, er hat an derselben Uni studiert wie ich. Wir fanden heraus, dass wir die gleichen Bücher mögen: Akunin, Umberto Eco … ›Was habe ich mit dir zu schaffen? Ich war für Korruption zuständig. Eine schöne Sache! Da weiß man, woran man ist. Aber mit euch …‹ Er erledigte seinen Job widerwillig, voller Scham, aber er erledigte ihn. Es gibt Tausende wie ihn: Beamte, Ermittler, Richter. Die einen prügeln, andere schreiben Zeitungsartikel, die Nächsten verhaften Leute oder fällen Urteile. Es braucht so wenig, um die stalinsche Maschinerie in Gang zu
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