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Rosendorfer muss dran glauben (German Edition)

Rosendorfer muss dran glauben (German Edition)

Titel: Rosendorfer muss dran glauben (German Edition)
Autoren: Rüdiger Bertram
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10 / 10 / 2015  – 22 : 00  Uhr
    Moritz sitzt auf der Kante eines Barhockers und kaut nervös auf seiner Unterlippe. Er hat den Hocker bis an den Rand der kleinen Bühne geschoben, und der Kegel des Theaterscheinwerfers ist ihm dorthin gefolgt. Sein rechtes Bein steht auf dem Boden, das andere ruht auf einem Steg des Hockers. Das soll lässig aussehen. Tut es aber nicht, weil ihm der Schweiß über die Stirn rinnt. Ich gehe jede Wette ein, seine Handflächen sind so feucht, als hätte er sie kurz vor dem Auftritt in ein Waschbecken mit lauwarmem Spülwasser getaucht. Außerdem hat er dunkle Flecken unter den Achseln seines T-Shirts mit dem Aufdruck »Elvis lebt«, das kann ich sogar von hier hinten aus erkennen. Der Junge ist der reinste Springbrunnen, mal abgesehen von seinem Mund. Der ist ganz ausgetrocknet, das weiß ich, weil er sehnsüchtig zu seinem Wasser hinüberstarrt. Die Flasche steht auf der Theke, genau dort, wo er sie vergessen hat, als er auf die Bühne gerufen wurde.
    Jetzt ist es zu spät, um sie zu holen.
    »Freunde des Wortes, bitte begrüßt mit mir Moritz Rosendorfer, den Mann, der euch das Fürchten lehrt!«, brüllt ein Typ, der neben ihm steht. Der Moderator. Er trägt ein zu großes Brillengestell und eine Wollmütze über den langen Haaren. Das sieht so hip aus, wie Moritz lässig wirkt. Irgendwer sollte ihm das sagen, aber das traut sich keiner, weil dem Typen der Laden hier gehört. Der Brillenmützenmann klopft Moritz auf den Rücken, halb aufmunternd, halb mitleidig, dann springt er von der Bühne zu seinen Gästen hinunter.
    Die SonderBar ist voll, so wie jeden Samstag. Die Leute sind gekommen, um sich unterhalten zu lassen. Brot und Spiele, nur dass es hier nichts zu essen gibt. Abgesehen von den versalzenen Erdnüssen, die überall auf den Tischen stehen und den Getränkeumsatz ankurbeln sollen.
    Vor Moritz ist eine Komikerin aufgetreten. Damit das auch jeder gleich kapiert, hat sie sich extra komisch angezogen: enges grünes Oberteil, kurzer roter Rock, blaue Kniestrümpfe. Wenigstens passte das Outfit zu ihrem Auftritt. Darin erzählte sie von ihrem schuhverrückten Freund, der immer nur shoppen will und nicht einparken kann.
    Die Zuhörer haben sie dafür johlend mit Erdnüssen beworfen, bis sie ihren Auftritt abgebrochen hat und heulend aufs Klo gelaufen ist.
    Die meisten der Besucher bezahlen ihre fünf Euro Eintritt, um die Leute auf der Bühne scheitern zu sehen. Das ist Moritz auch schon passiert. Keine Ahnung, warum er es trotzdem immer wieder versucht. Vielleicht macht es ihn an, sich mit Erdnüssen bewerfen zu lassen? Was weiß ich schon groß über ihn, ich kenne ihn ja erst seit ein paar Wochen. Wobei »kennen« jetzt auch etwas übertrieben ist.
    Moritz wartet schweigend auf seinem Hocker, bis sich die Unruhe gelegt hat und das Publikum bereit ist, ihm zuzuhören. Dazu beugt er den Oberkörper vor, um den Abstand zwischen sich und seinen Zuhörern zu verringern. Ich glaube, am liebsten würde er in sie hineinkriechen und seine Geschichten wie zeitzündergesteuerte Bomben in ihren Köpfen ablegen, um dann durch einen Hinterausgang schnell wieder zu verschwinden. Aber das geht nicht, und deswegen sitzt er auf dieser Bühne und bemüht sich, einigen der Besucher direkt in die Augen zu blicken, um sie einzufangen. Den Glatzkopf mit der schwarzen Lederjacke am Tisch rechts vorn zum Beispiel, der schon die ganze Zeit mit seinem Kumpel quatscht. Das Gruftipärchen weiter hinten, das sich verliebt an ihren Ohrpiercings knabbert. Oder das Mädchen mit dem geblümten Kleid und dem Leberfleck auf der rechten Wange, das gelangweilt an der Wand neben den Klos lehnt. Und auch Anne, die an der Theke steht und nur mit Mühe die Augen offen halten kann. Sie hat ihre Brille abgenommen und reibt sich müde die Nasenflügel.
    Auch mich trifft Moritz’ Blick. Aber er sieht mich nicht.
    Wie auch? Es ist mein Job, nicht gesehen zu werden.
    Und endlich ist sie da, die Stille, die Moritz sich gewünscht hat. Die Leute haben sich beruhigt und warten gespannt. Warten darauf, was er ihnen diesmal erzählt. Moritz liebt diesen Augenblick, das ist nicht zu schwer zu erkennen. Diesen Moment, in dem sie ganz Ohr sind und ihm ein paar Minuten überallhin folgen, wohin auch immer er sie führt.
    Er zögert noch ein paar Sekunden, kostet die Situation aus bis zum Letzten. Dann beginnt er: »›Was soll schon groß passieren? Ich bin doch bei dir!‹, sagt der Junge zu seiner Freundin. Sie will nicht,
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