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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Autoren: Rebecca Hohlbein
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    D ie Götter zeigten sich von ihrer gehässigsten Seite, doch Froh konnte es ihnen nicht verübeln. Er hatte es nicht besser verdient.
    Gleich zu Beginn seiner Irrfahrt hatten die Götter gewollt, dass ein Großer Zahnfisch in seinem winzigen Baumboot landete. Der Große Zahnfisch hingegen hatte eigentlich gewollt, dass ein paar der zahllosen kleinen Fische, die urplötzlich neben Froh durch die Wellen geschossen waren, in seinem gierigen Maul landeten, aber seine Wünsche waren selbstredend nichtig, wenn sie den Zielen der Götter im Weg standen.
    Nun – der Große Zahnfisch war jedenfalls fast so lang gewesen wie das Boot, und Froh hatte erleichtert festgestellt, dass das Monster nicht mit seinem großen Maul voller Zahnreihen zu seinen Füßen gelandet war, sondern mit dem Kopf im Bug. Er fand, dass ein paar abgebissene Zehen möglicherweise auch eine gute Strafe für einen schlechten Menschen waren, konnte aber trotzdem auf die Erfahrung verzichten.
    Nicht, dass er sich gegen das Fischmonster gewehrt hätte, wenn es anders gekommen wäre – wie gesagt: Er hatte sich den Zorn der Götter redlich verdient und war bereit, alles, wirklich alles zu ertragen, was sie ihm für sein eigennütziges Verbrechen abverlangten. Aber ein kurzes Aufatmen hatte er sich dennoch erlaubt, als er noch sämtliche Gliedmaßen besessen hatte, nachdem der Große Zahnfisch endlich das Zappeln eingestellt hatte.
    Tagelang hatte er dem übel riechenden Schuppenmonster möglichst wenig Beachtung geschenkt und war unbeirrt weiter gen Horizont gerudert. Bis auf seine Kräuterkrüge hatte er keinerlei Proviant bei sich; sein Schicksal lag ganz allein in den Händen der Götter – insbesondere in denen Ivis, der über das Meer herrschte und vor dem er die allergrößte Schuld auf sich geladen hatte.
    Aber irgendwann war ihm ein Gedanke gekommen: Wenn es eine unverzeihliche Sünde war, sich selbst oder einen anderen Menschen zu töten, für die einen post mortem mit absoluter Sicherheit das ewige Grauen in Vulkas Schwarzer Höhle unterhalb des Kranken Berges erwartete, dann war es wohl nicht minder verwerflich, den eigenen Körper elendig verhungern zu lassen. Auch dann nicht, wenn man es aus Reue tat. Aus Reue eine neue Sünde zu begehen, konnte nicht der Sinn der Sache sein, und weil der Große Zahnfisch nach drei Tagen in der brüllenden Hitze außerdem gar nicht mehr so bitter und faulig stank wie ganz am Anfang, sondern duftete wie ganz gewöhnlicher Trockenfisch, hatte Froh ihn ausgenommen und zerlegt. Das Fleisch hatte er sich gut eingeteilt. Immer dann, wenn er befürchten musste, anderenfalls zu verhungern, hatte er sich ein Stückchen davon genehmigt. Aber allen sehr vorbildlichen Gedanken zum Trotz hatte er dabei ein schlechtes Gewissen verspürt. Er hatte es nicht verdient zu essen – nur eben auch kein Recht, es einfach zu lassen.
    Geschmeckt hatte es ihm trotzdem, und am Leben erhalten hatte es ihn auch.
    Dass bald, nachdem der letzte Happen verschlungen war, ein monsunartiger Regenschauer auf sein Boot herabgestürzt war und seine jüngst erschöpften Wasservorräte aufgefüllt hatte, verdankte er zweifellos ebenfalls Ivi. Offenkundig war dem Meeresgott sehr daran gelegen, Frohs sündigen Körper so lange wie möglich immer ganz knapp am Leben zu erhalten. Vielleicht hatte er sich noch nicht entschieden, wie er mit seiner unsterblichen Seele vorgehen sollte. Froh hoffte, dass er es bald tat, und dass die Entscheidung zu seinen Gunsten ausfiel. Nicht Vulkas Unterwelt, sondern das ewige Glück in der Welt über den Wolken – oder zumindest eine Wiedergeburt als neuer Mensch, der es ganz bestimmt besser machen würde als Froh – war sein angestrebtes Ziel.
    Dem Regen war raue See gefolgt. Es hatte gestürmt. Meterhohe Wellen hatten sich um ihn herum aufgetürmt wie Hügel und Berge – zuletzt die größte, die er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Wie eine ganze Gebirgskette hatte sie sich als grauer Streifen am Horizont abgezeichnet, und während sie auf ihn zugerast war, hatte er alle Götterlieder gesungen, die er kannte. Jetzt war es wirklich vorbei, hatte er gedacht. Nun war die Entscheidung gefallen, und in den letzten Augenblicken seines irdischen Lebens wollte er noch einmal mit aller Kraft und Entschlossenheit für seine unbedeutende kleine Seele beten.
    Aber irgendwas hatten Ivi und die anderen Götter falsch verstanden. Oder es war wirklich eine erhabene Form von Gehässigkeit, dass die Riesenwelle sein kleines
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