Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Nichts davon hatte ihn auf diesen Anblick vorbereitet. Haare, Hirn und Knochensplitter vermischten sich mit Blut zu einem zähflüssigen Brei, der aus einer faustgroßen Öffnung tropfte. Carsten taumelte zurück und übergab sich. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, und das Nächste, was er spürte, war Ninas Hand, die seine Wange berührte.
    »Geht's wieder?«, fragte sie leise.
    Er nickte.
    Sandra hatte Juniors Leiche an eine Wand geschoben und eine Decke darüber ausgebreitet. Von oben waren Schüsse zu hören. Hagen und Fenn feuerten unablässig auf Michaelis' Leute. Carsten sah, wie Sandra ein Gewehr packte und zur Treppe eilte. Ihr Haar war strähnig, ihr Gesichtsausdruck verbissen; trotzdem fand er sie einen Augenblick lang schöner denn je.
    Sie war gerade die ersten Stufen hinaufgestiegen, als oben ein Schrei gellte.
    »Runter! Um Gottes willen, runter!«
    Ehe sie reagieren konnte, kam ihr Hagen entgegengesprungen, traf sie mit seinem ganzen Gewicht und riss sie mit sich zu Boden. Fenn stürzte hinterher.
    »Die Scheiben …«, schrie er; alles Weitere ging im Brüllen mehrerer Maschinenpistolen unter. Die Fenster der Sichtkanzel explodierten mit schrillem Klirren, ein Kristallregen ergoss sich durch die Luke nach unten. Wie gläserne Schwerter surrten Scherben durch die Luft und zerspritzten beim Aufprall auf Stein und Metall in Hunderte winziger Bruchstücke.
    Carsten schrie auf, als sich ein nadelspitzes Glasstück in seinen Oberschenkel bohrte. Hagens Gesicht war plötzlich voller Blut. Er sah, wie Nina zur Seite rollte und gegen Juniors Leiche stieß. Fenn und Sandra lagen bewegungslos auf dem Bauch, die Arme schützend über den Kopf gerissen, als warteten sie ergeben auf den tödlichen Stoß eines Glasdolches.
    Dann – Stille.
    Einige Herzschläge lang rührte sich niemand, keiner sagte ein Wort. Ein paar Glaskristalle rieselten mit hellem Klingeln zu Boden, sonst war Ruhe.
    Schließlich, ganz langsam, hob Carsten den Kopf. Der Splitter in seinem Bein brannte, als sei er aus Salz. Auch die anderen regten sich. Nina und Sandra waren unverletzt. Das Blut auf Hagens Gesicht lief aus einem langen Schnitt, der wie ein zweiter, verrutschter Mund in seiner Stirn klaffte. Er war nicht tief genug, um wirklich gefährlich zu sein.
    Fenn pflückte sich zwei, drei schmale Scherben aus der Kleidung. Auch ihre Spitzen glänzten rot. »Alles in Ordnung?«, keuchte er. Schwarze Strähnen seines langen Haars klebten in seinem Gesicht.
    Die meisten murmelten zurückhaltende Bestätigungen. Carsten betrachtete den Splitter in seinem Schenkel und tippte vorsichtig mit dem Zeigefinger dagegen. Es tat höllisch weh, doch die Glasspitze schien nicht allzu tief zu sitzen. Nina kroch neben ihn.
    »Lass mich das machen«, hauchte sie. Ehe er einen Einwand erheben konnte, nahm sie die Scherbe zwischen zwei Finger und zog sie mit einem heftigen Ruck aus dem Fleisch. Er stöhnte auf.
    »Besser?«, fragte sie.
    »Viel besser«, keuchte er ohne Überzeugungskraft.
    Fenn erhob sich und stieg vorsichtig die Stufen hinauf. Hagen, der ein umherliegendes T-Shirt gegen seine Stirnwunde presste, wollte ihm folgen, doch Fenn hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. Er wollte noch etwas sagen, als im gleichen Augenblick eine weitere MP-Salve den Turm erschütterte.
    »Das kam von unten!«, schrie Sandra und stürzte bereits die Treppe hinunter. »Sie versuchen, das Schloss am Eingang aufzuschießen.«
    Fenn sprang die letzten Stufen hinauf zur Kanzel. Glas knirschte unter seinen Sohlen. Regen peitschte von allen Seiten herein. Das Maschinengewehr ragte sturmumtost wie ein schwarzes Skelett aus einem Meer von Scherben. Der Boden war zentimeterhoch mit Glas bedeckt. Es war unmöglich, auf den Knien zu kriechen; die scharfen Kanten hätten ihm die Beine in Fetzen geschnitten. Er musste wohl oder übel gebückt auf den Füßen bleiben; nichts anderes hatten sie mit der Zerstörung der Scheiben bezwecken wollen. Ohne sich auf Knien und Händen abzustützen, war es fast unmöglich, unterhalb des schützenden Mauerrandes zu bleiben. Die Kanzel war zu einer tödlichen Falle geworden.
    Wieder waren vom Eingang her Schüsse zu hören. Fenn bewegte sich im Entengang bis zur Brüstung. Aus den Fensterrahmen stachen Splitter wie ein gläsernes Sauriergebiss. Als er vorsichtig über den Rand blicken wollte, peitschte augenblicklich ein Schuss und verfehlte ihn nur um wenige Zentimeter. Der Scharfschütze lag auf der Lauer. Er wartete nur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher