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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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zerrissen.
    »Los, fallen lassen!«, schrie Fenn durch den Lärm und ging gleichzeitig zu Boden. Carsten folgte der Anweisung, und auch Hagen nahm den Finger vom Abzug und warf sich langgestreckt hin. Im selben Augenblick krachten mehrere Schüsse. Vier, fünf tennisballgroße Löcher klafften plötzlich in den Scheiben. Dann herrschte wieder Ruhe.
    Junior erschien auf der Treppe, ein Gewehr in der Hand.
    »Bleib unten«, befahl ihm Fenn.
    Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Carsten kann nicht schießen«, sagte er und hockte sich neben ihn unters Fenster. »Und wenn ihr eines hier oben braucht, sind das Schützen.«
    Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte Fenn widersprechen, dann nickte er nur grimmig.
    Hagen stieß Carsten an. »Los, runter! Pass gut auf die Mädchen auf.« Er grinste.
    Carsten antwortete mit einem Kopfnicken und robbte zur Wendeltreppe. Dort ließ er sich in die Tiefe gleiten.
    »Fenn«, ertönte jetzt wieder Michaelis' Lautsprecherstimme von draußen. »Sieht aus, als hätten wir beide ein Problem miteinander, oder?«
    Michaelis nahm das Megafon vom Mund. Nadine kauerte einige Meter weiter in einer Senke. Die Kugeln hatten sie weit verfehlt, aber der Mann neben ihr war voll getroffen worden. Er lag reglos zwischen den Bäumen, sein Blut verklebte den Teppich aus Fichtennadeln. In einem letzten Zucken hatte er beide Arme hochgerissen; sie waren an den Ellbogen nach innen geknickt wie die Beine einer toten Spinne. Von ihrem Platz aus konnte Nadine nicht jeden ihrer Leute sehen. Den Schreien nach zu urteilen, die sie durch das Inferno des hämmernden Maschinengewehrs gehört hatte, war noch mindestens ein weiterer getroffen worden, vielleicht sogar zwei.
    »Es scheint, als hätten wir ihre Kaltblütigkeit unterschätzt«, meinte Michaelis.
    »Das war unnötig«, zischte Nadine. »Du hättest sie nicht reizen dürfen.«
    Michaelis bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. »Nawatzki hat befohlen, zu verhandeln. Das habe ich getan. Jetzt haben wir freie Hand.«
    »Und zwei Männer weniger«, erwiderte sie bissig.
    »Drei«, sagte eine Stimme neben ihr. Tomas robbte, sein Präzisionsgewehr mit beiden Armen vorgestreckt, zu ihr in die Bodensenke. »Zwei von den anderen geht's genauso wie diesem armen Kerl hier.« Er deutete auf die Leiche.
    Michaelis fluchte. »Nawatzki hat versprochen, diese Männer seien Profis, verdammt!«
    »Auch Profis sind nicht kugelfest«, bemerkte Nadine spitz.
    Der Blick, mit dem er sie ansah, war eiskalt. »Aber sie sollten wissen, wann sie ihre verfluchten Schädel einziehen müssen.«
    »Jetzt sind wir beim Gleichstand, sechs gegen sechs«, sagte Tomas. »Das ging schnell.«
    Nadine schüttelte den Kopf. »Worthmann und dieses Mädchen zählen nicht.« Sie deutete mit einem Nicken auf sein Gewehr. »Sieh zu, ob du einen dieser Mistkerle erwischen kannst.«
    Er nickte stumm und blickte durch die klobige Zieloptik seiner Waffe. Fast eine Minute lang erstarrte er zu völliger Reglosigkeit. Nadine fragte sich, ob er auch aufgehört hatte zu atmen. Dann, ganz plötzlich, tippte er an den Abzug.
    Der Schuss wurde als krachendes Echo aus der Schlucht zurückgeworfen. Nadine hörte über das Brüllen des Unwetters hinweg einen Schrei.
    Tomas lächelte zufrieden.
    Carsten hörte, wie Hagen Juniors Namen brüllte. Nina ergriff seine Hand. Über ihnen in der Aussichtskanzel krachte ein Körper zu Boden.
    Sandra kletterte die untere Hälfte der Treppe hinauf. »Was ist los?«, fragte sie besorgt. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie es längst ahnte.
    »Bleib unten«, rief Fenn grob. »Sie haben Junior erwischt. Die haben einen Scharfschützen da draußen.«
    »Das ist doch alles Irrsinn«, flüsterte Carsten. Er suchte Ninas Blick, aber sie starrte nur fassungslos zur Öffnung des Treppenschachtes hinauf. Sandra schloss für einen kurzen Moment die Augen.
    Ein paar Füße erschienen in der Öffnung, liegend. Fenn und Hagen schoben Juniors Leiche die Treppe hinunter. Er trat vor, um Sandra zu helfen, den Körper anzunehmen. Sie packten jeweils einen Arm und hoben ihn über die Kante, schleppten ihn die Stufen hinunter. Erst als sie unten angekommen waren, sah er in das Gesicht des Jungen. In seiner Stirn klaffte ein dunkelrotes Loch, ein fingerbreiter Blutfaden lief an seiner Nase hinunter zum Kinn und von dort in den Ausschnitt seines Overalls.
    Dann fiel sein Blick auf den Hinterkopf. Er hatte davon gelesen, welche Wunden beim Austritt mancher Kugeln entstanden.
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