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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst
Autoren: Roel Verschueren
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hielt sich mit Mühe an der Lehne fest und schaute ihn an. »Ich soll ruhig sein? Für wen und wofür?«, keuchte sie.
    »Für uns, ich bin zum Reden gekommen. Endlich richtig reden.« Er schenkte Martha ein Glas Wasser ein und hielt es ihr hin.
    Sie nahm das Glas und setzte sich. »Es gibt nichts zu sagen«, sagte Martha. »Alles schon mal gesagt. Ich muss nicht reden. Ich will nicht reden. Ich will nicht reden müssen!«
    Victor schwieg. »Warum, Oma? Warum?«
    Martha überschlug sich. »Welches Warum willst du wissen, Victor? Für welche Antwort auf welches verdammte Warum bist du mit all deinem Stochern und Suchen bereit? Wirst du jemals bereit sein für auch nur eine einzige Antwort auf ein Warum?«
    Victor nahm zwei Tabletten Aspro und schluckte sie mit Wasser. Er wartete.
    »Willst du wissen, warum dein Vater die dümmste Entscheidung seines Lebens getroffen hat und zur Ostfront aufgebrochen ist? Nun, ich weiß es nicht und du kannst es ihn nicht mehr fragen.«
    »Oma, es ist gut.«
    »Natürlich ist es nicht gut. Willst du wissen, warum er mich sieben Jahre alleingelassen hat? Warum ich die ganze Zeit auf ihn gewartet habe? Willst du das wissen? Oder willst du wissen, warum du bist, wie du bist? Willst du wissen, warum Lucy zu mir gekommen ist und mich angefleht hat, für dich zu sorgen?« Marthas Stimme brach und sie weinte. »Willst du das wissen, Victor?«
    Martha ließ sich auf den Stuhl sinken und sah verbissen auf ihre Hände. Sie atmete tief und schwer und versuchte, ruhiger zu sprechen. »Willst du wissen, warum ich beschlossen habe, für dich zu sorgen, als ob du mein eigener Sohn wärst? Willst du wissen, warum ich mich monatelang versteckt habe, bis du geboren warst und Lucy dich an mich übergeben konnte? Willst du das alles wissen, Victor? Oder kommst du einfach, um mir zu sagen, dass du mich hasst, weil du es nicht wusstest?«
    »Ich brauche Luft.« Victor warf seinen Stuhl nach hinten, öffnete die doppelte Küchentür und trat hinaus. Er ging in die Mitte der Rasens und schrie: »Fuck! Fuck! Fuck!!!« Er trampelte die Blätter auseinander, schrie, krümmte sich und kotzte. Martha saß am Tisch mit dem Gesicht in ihren Händen. Victor kam wieder herein und ging ins Badezimmer. Er warf Wasser in sein Gesicht, drückte Zahnpasta auf seinen Finger und spülte sich den Mund aus. Er lehnte sich mit beiden Händen auf das Waschbecken und betrachtete sich selbst im Spiegel. Er nickte träge, schaute direkt in die Augen seines Spiegelbilds, bis er sich selbst nicht mehr erkannte, trocknete sein Gesicht ab und ging wieder in die Küche. »Können wir einfach reden?«, fragte Victor.
    »Kannst du einfach reden, Victor? Kannst du versuchen, dich in die Zeit hineinzuversetzen und nicht zu urteilen, nicht zu verurteilen, bevor du alle Seiten der Geschichte kennst?«
    »Inzwischen bin ich ›die Geschichte‹«, sagte Victor.
    »Das warst du doch schon die ganze Zeit, nur wusstest du es nicht. Kannst du mit mir sprechen, und ich meine sprechen, ohne diesen hasserfüllten Blick in den Augen, ohne mich im Vorhinein zu verfluchen?«
    »Ich tue mein Bestes.«
    »Nicht gut genug, Victor. Streng dich mehr an!«
    Victor atmete tief durch. »Ich tue mein Bestes.«
    Er sah, dass Martha aufstand und sich auf den Stuhl direkt vor ihm, auf der anderen Seite des Tisches, setzte. Sie rieb nervös mit der rechten Hand über die linke. »Hör zu und lass mich ausreden. Kannst du das überhaupt, Victor? Lucy stand am Tor des Bauernhofs, in einem Kostümchen, auf hohen Hacken und kam auf mich zu. Sie erzählte mir, dass sie deinen Vater in einem der Krankenhäuser in Breslau gepflegt hatte und dass sie wissen wolle, wie es ihm gehe. Noch bevor sie drei Schritte machen konnte, brach sie zusammen. Ich brachte sie hinein und sagte, dass ich ihr nicht glaube. Sie sagte, dass sie schwanger sei von Albert, nirgendwohin könne, kein Geld habe, dass ihre Eltern sie hinausgeworfen hätten und dass sie sich nicht gut fühle. Sie dachte, dass ich Alberts Schwester sei, und flehte mich an, ihr zu helfen.« Martha schluchzte. Sie trank Wasser. »Ich sagte, dass ich ihr helfen würde. Sie trug das Kind deines Vaters, Victor. Verstehst du, was das für mich bedeutete? Ich log und sagte, dass Albert mein Mann sei. Da brach sie völlig zusammen. Ich brachte sie bei einer Freundin in Mechelen unter, bis ich deinen Großvater davon überzeugen konnte, dass ich schwanger war. Er war froh, dass ich mit meinem Problem wegging, steckte mir etwas
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