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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst
Autoren: Roel Verschueren
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Mutter etwas vor?«, fragte Victor.
    »Ein Sohn ist entweder verliebt in seine Mutter oder er hasst sie. Ich war verliebt. Übrigens glaube ich, dass Söhne, die ihre Mutter hassen, vor allem sich selbst hassen.«
    Victor sah Jozef erstaunt an.
    »Was denn? Ist es nicht so?«
    »Du hast deine Mutter einfach besonders gern«, sagte Victor und nahm seinen Löffel. »Der Rest spielt keine Rolle.«
    Sie aßen schweigend ihr Abendessen. Jozef ging zur Toilette.
    Als er zurückkam, kletterte er wieder auf seinen Barhocker, bestellte noch zwei Bier, stützte den Kopf in beide Hände und starrte vor sich hin. Nach einer ziemlich langen Pause hob er sein Glas und sagte leise: »Auf die Spiegel.«
    »Auf die Spiegel?«
    »Auf die Spiegel – so wie der da, in dem ich mich schon den ganzen Abend voller Selbstmitleid anglotze.«
    »Verstehe ich nicht. Und ich weiß nicht, ob ich das überhaupt verstehen will«, lachte Victor.
    »Ich hatte mal eine Freundin«, sagte Jozef jetzt fast flüsternd und rückte näher an Victor heran. »Eines Tages erzählte sie mir, dass sie sich immer wieder dabei ertappe, wie sie im Lift zu ihrer Wohnung im vierten Stock das Schild von der Fahrstuhlfirma liest. Jedes Mal, wenn sie nach oben oder unten fuhr, las sie ganz genau Wort für Wort, was sie im Notfall tun solle. Die Notfallnummer, die Anleitung, wie man Alarm schlägt, die Aufforderung nicht in Panik zu geraten und so weiter. Das Schild klebte da neben den Knöpfen mit den Zahlen von eins bis sechs. Und bei jeder Fahrt wurde ihr Blick magisch von dieser kleinen Kupfertafel angezogen. Sie hat sich wahnsinnig aufgeregt und ernsthaft an sich gezweifelt, weil so ein blödes kleines Schild ihre Aufmerksamkeit fesseln konnte.« Jozef unterbrach sich und steckte sich eine Zigarette an.
    »Und?«, fragte Victor ungeduldig.
    »Eines Abends fuhr ich mit diesem Aufzug hinauf zu ihrer Wohnung und siehe da: Mir passierte genau das gleiche. Erst habe ich mir noch eingeredet, dass sie mir ja ihre Geschichte erzählt hatte und ich deswegen wie gebannt auf die Anweisungen starren musste. Aber auch als ich ein paar Stunden später mit dem Lift zurück nach unten fuhr, klebten meine Augen schon wieder zwanghaft auf diesem Schild und ich las alles noch einmal durch. Erst nachdem ich sie zum dritten Mal besucht hatte, hab ich kapiert, woran es lag.« Jozef schwieg.
    »Mach’s nicht so spannend, oder soll ich jetzt wirklich fragen warum?«, lachte Victor.
    »In dem alten Aufzug hing kein Spiegel«, sagte Josef und wackelte dabei mit dem Zeigefinger.
    »Aha. Und was hätte ein Spiegel verändert?«
    »Alles!«, rief Jozef laut. »Und genau das ist auch dein Problem, jetzt wird mir alles klar.«
    »Na, da bin ich aber mal gespannt«, sagte Victor überrascht, »na los, mach schon, gib’s mir.«
    »Wir ertragen es nicht, wenn sie fehlen – und wenn sie da sind, sehen wir die Wirklichkeit nicht! Ständig schauen wir in den Spiegel, immer auf der Suche nach etwas, das dort überhaupt nicht zu finden ist. Wir fragen uns doch zum Beispiel, was der Mann da drin an seines Vaters Stelle getan hätte. Aber darauf gibt es keine Antwort, verstehst du das nicht? Und trotzdem können wir ohne Spiegel nicht leben.«
    Jozef seufzte. »Es ist doch so: Wir wollen uns selbst weismachen, dass unser Spiegelbild die Antwort kennt. Aber es spricht nicht mit uns, es sagt nichts und es beantwortet keine Fragen. Weil wir die Fragen immer nur uns selbst stellen und sie selbst beantworten! Solange du dich im Spiegel betrachtest und dich fragst, was du an Alberts Stelle getan hättest, kommst du keinen Schritt weiter.«
    »Blödsinn! Ich war sehr wohl offen für die Wahrheit. Ich war auf alles vorbereitet«, sagte Victor und fuchtelte mit der Hand vor Jozefs Gesicht herum.
    »Auf die Wahrheit kann man sich nicht vorbereiten, auch nicht wenn es um den eigenen Vater geht. Offenbar war er für eine kurze Zeit seines Lebens nicht der Mann, den du dir gewünscht hast, und schon stürzt deine Welt ein. Menschen erzählen nun einmal, was sie selber glauben wollen; das macht ja zum Beispiel Geschichtsschreibung so kompliziert. Ich habe während meiner gesamten Universitätslaufbahn nichts anderes getan als auszusortieren. Ich habe versucht, zu verstehen, warum eine bestimmte Begebenheit so und nicht anders erzählt wird und wieso aus einer bestimmten Interpretation derselben Tatsache Geschichte wird und aus einer anderen nicht.«
    Er trank sein Glas aus und deutete mit dem Zeigefinger einen Kreis
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