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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst
Autoren: Roel Verschueren
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der im Oktober ’44 nach Hause zurückgekehrt ist, sofort exekutiert wird. Einige hatten, im Vergleich zu anderen, nur einen sehr bescheidenen Beitrag zur Kriegsgewalt geleistet. Wenn sie dann vor einem Exekutionskommando gefallen sind, ist das ungewöhnlich.«
    »Wie kannst du diese ganze Materie so nüchtern und kühl angehen? Versuchst du denn niemals, dich in uns, in die Familien der Kollaborateure, hineinzuversetzen? Kannst du die akademische Distanz nicht einmal kurz beiseite lassen?«, fragte Victor. »Vielleicht würde es dich weiterbringen, mit etwas mehr Einfühlungsvermögen auf die Fakten zu schauen.«
    »Was du kühl nennst, nennen wir die relative Objektivität des Historikers«, sagte Jozef ruhig. »Und ich mache das hier aus demselben Grund wie du: Wissenwollen. Bei mir geht es dabei jedoch nicht nur um eine Person, sondern um das Gesamtbild, um die Zusammenhänge.«
    »Du gehst ziemlich emotionslos damit um, finde ich.«
    »Victor, Geschichte basiert auf Fakten.«
    Jozef stand auf und wanderte hin und her. »Wenn du diese Fakten nicht akzeptierst, wie sie sind, dann bist du als Forscher oder Wissenschaftler, als Dozent oder Student verloren. Da ist kein Platz für Gefühle, höchstens für Interpretation. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du eigens zu mir gekommen bist, um eine Schulter zum Ausheulen zu finden.«
    Victor zündete eine Zigarette an.
    Jozef schaute aus dem Fenster in den Garten. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du enttäuscht bist«, sagte er nach einiger Zeit, »und ich verstehe nicht, warum.«
    »Ich bin nicht enttäuscht«, sagte Victor, »aber ich erfahre durch diese Akte nichts Neues über die möglichen Kriegsverbrechen meines Vaters.«
    »Ein weiser Mann hat mir einmal gesagt, dass Enttäuschung allein mit Erwartung zu tun hat. Was hattest du eigentlich am Ende der Fahrt erwartet? Albert als großen Held? Albert als großen Schurken? Albert als unverstandenen Idealisten? Was ist der tiefere Grund dafür, dass du dieser Sache so spät in deinem Leben nachgehst? Wenn du die Antwort darauf kennst, weiß ich auch, warum du enttäuscht von dem bist, was du gerade über deinen Vater erfahren hast. Du fängst an, mir mehr auf die Nerven zu gehen als meine Studenten.«
    »Kein Wunder bei jemandem, der nicht viel Reaktion gewohnt ist.«
    Jozef lachte.
    Victor drehte sich um. »Können wir irgendwo anders hingehen um weiterzusprechen? Ich glaube, wir könnten beide etwas zu essen vertragen, und diese Festung hier ist ungemütlich.«
    »Schwere Vergangenheit?«
    »Haben wir die nicht alle?«
    »Ich kenne den idealen Ort. Wie viel Zeit hast du?«
    »Weniger Zeit, als ich schon verloren habe. Aber genug, um zu versuchen etwas nachzuholen. Und du?«
    »In den Geschichtsbüchern ist Zeit wichtig, aber trotzdem auch sehr relativ. Ich habe gelernt, dass Zeit nicht mehr ist als ein störendes Metronom, das die Menschen vor allem brauchen, um sich selbst nicht zu verlieren. Obwohl das absolut notwendig ist, ab und zu.«
    Victor sah Jozef an und musste zugeben, dass er ihn eigentlich doch mochte.
    Jozef ging voraus. »Brauchst du deine Kopie?«
    »Ich lasse sie lieber hier. Ich packe sie nachher ein.«
    Sie verließen das Universitätsgebäude und gingen ein paar Straßen weit in die Stadt hinein.
    »Ich liebe die Stadt«, sagte Jozef, »und ich hasse das Land. Hier kenne ich alle guten Plätze. Wenigstens … glaube ich sie zu kennen. Wenn man allein ist, dann irrt man manchmal herum, um nicht allein zu sein. Bis man aufs Neue allein sein möchte. Und diese Stadt ist perfekt dafür geeignet. Wie dafür gemacht. Hier gibt es Wasser, Geschichte, Kultur, das beste Essen, das ein Junggeselle ohne Mutter, die für ihn kocht, kriegen kann. Bedarf erzwingt Lösungen. Wenn sie auch manchmal etwas kläglicher ausfallen, als man es erhofft hat.«
    Sie überquerten den großen Platz und gingen in Richtung Fluss. Victor realisierte erneut, wie stark sich die Stadt seit seinem letzten Aufenthalt schon wieder verändert hatte.
    »Was ist so kläglich am Alleinsein?«
    »Alles. Glaub mir … Letztendlich alles. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
    »Ich dachte, dass das Alleinsein auch seine Vorteile hätte? Ich kenne Menschen, denen das sehr wichtig ist«, sagte Victor.
    »Notgedrungen. Ich darf also unterstellen, dass du niemals richtig allein gewesen bist. Gut für dich, aber insofern bist du für mich kein Gesprächspartner.«
    »Gab es denn nie jemanden, der wichtig für dich war? Eine
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