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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst
Autoren: Roel Verschueren
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1
    »Warum machst du das Radio aus?«
    Victor goss sein Glas halb voll und sah Lilly an. »Entschuldige, ich wusste nicht, dass du zuhörst.«
    Er machte das Radio wieder an, nahm seinen Fruchtsaft und verließ die Küche.
    »He! Du kannst auch einfach hierbleiben, dann …«
    Er war den langen Flur schon halb hinuntergegangen und hörte sie nicht mehr.
    Er trat durch die doppelte Balkontür nach draußen, schüttelte eine Zigarette aus dem Päckchen, das dort auf dem kleinen Tisch lag, und setzte sich, Gesicht zur Sonne, Füße auf dem Geländer, den Kopf an die weiß gekalkte Außenmauer gelehnt.
    Sie hatte ihn einmal gefragt, wo er wohnen wolle, falls er nach Wien ziehen sollte. In der Stadt, hatte er geantwortet. Unbedingt, mitten hinein ins Leben. Wenn er diesen Schritt schon machen würde, dann richtig. Mit Menschenmassen, einem Markt und lebendigen, kleinen Restaurants. Mit Bars, in denen man erkannt wird, wenn man hereinkommt, mit Spielplätzen und kleinen Parks, um sich kurz auszuruhen. Er war froh gewesen, dass Lilly das auch gut fand.
    »Und wenn du eines Tages aufs Land möchtest?«, hatte er gefragt.
    Er hatte viele Freunde, die nach einem trüben Winter mit viel Nebel und Regen, Schlamm und stickiger Luft, ganz ohne Schnee und Bläue, plötzlich beschlossen hatten, die Stadt zu verlassen.
    »Dann halte mich bitte auf«, hatte sie gefleht.
    Vom dritten Stock aus konnte Victor über den lang gestreckten Markt sehen und Hunderte von Touristen beobachten, die sich dort unter die einkaufenden Wiener mischten. Auf der gegenüberliegenden Seite sah er links zwei Häuser von Otto Wagner und rechts, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, die goldene Kuppel der Secession, wo er regelmäßig Kunstausstellungen besuchte.
    Er zuckte zusammen, als Lilly auf den Balkon gewackelt kam. Sie hielt sich mit einer Hand am Geländer fest und sank mit einem tiefen Seufzer auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
    »Möchtest du reden oder kannst du nicht mehr zuhören?«, fragte sie.
    »Letzteres«, sagte Victor und blies den grauen Rauch in die hellblaue Luft.
    Lilly hatte recht. Dieser hässliche, große Baum vor dem Balkon musste weg. Er raubte ihnen nur das Licht und die Aussicht.
    »Was hat dich gerade so gestört?«, fragte Lilly.
    »Nichts«, sagte er. »Aber seit ich hierher gezogen bin, kriege ich jeden Tag etwas über euren Zweiten Weltkrieg zu hören, zu sehen oder zu lesen. Es wird mir regelrecht reingewürgt. Und ich soll es schlucken. Das ist alles.«
    Lilly wollte antworten, aber ihre Stimme überschlug sich. Sie hustete und räusperte sich, schluckte und berappelte sich wieder. »Das ist alles? Und überhaupt, seit wann ist das ›unser‹ Krieg?«
    Sie hustete noch mal. Der Hals tat ihr weh.
    »Geht’s wieder?«
    »Weißt du überhaupt, was du sagst?«, fragte sie. »Kennst du Pseudoexperte unsere Geschichte so gut, dass du dir eine dermaßen hochnäsige Haltung erlauben kannst?«
    »Lilly, man sollte doch wenigstens erwarten können, dass ein Volk nach mehr als sechzig Jahren etwas besser damit umgeht, etwas leichter darüber spricht. Falls überhaupt noch darüber gesprochen werden muss.«
    Lilly erhob sich mühsam. »Bleib ja sitzen«, sagte sie, »lauf bitte nicht weg. Ich gehe schnell pinkeln und hole einen Pullover. Mir ist kalt.«
    »Ich gehe nirgendwohin«, sagte Victor.
    Er rutschte etwas tiefer in den Stuhl und blies träge seinen Atem durch die zusammengepressten Lippen.
    Sie kam, in seine warme schwarze Fleecejacke eingemummelt, zurück auf den Balkon und reichte ihm einen kleinen Espresso. »So kann ich sichergehen, dass du sitzen bleibst und nicht abhaust, weil du etwas zu trinken holen möchtest.«
    Victor nippte am Kaffee und fuhr fort, als wäre er nicht unterbrochen worden. »Ihr habt fast kollektiv zugestimmt, Lilly. Bis auf wenige Prozent haben eure männlichen Landsleute damals ein Kreuz in den Kreis neben dem ›Ja‹ gemacht. Natürlich ist das auch ›euer‹ Krieg.«
    »He, du politischer Barbar.« Sie drückte ihren Rücken durch und setzte sich aufrecht hin, die Beine gespreizt. Lilly ging zum Angriff über. »Wir hatten in Österreich schon 1918 das Frauenwahlrecht, ihr erst im Jahr ’48, wenn ich mich richtig erinnere. Wenn du schon einen Punkt machen willst, dann mach ihn wenigstens korrekt. Und wenn es tatsächlich unsere ›kollektive‹ Entscheidung und ›unser‹ Krieg war, warum hast du dann so ein Problem damit, dass wir darüber reden? Wir haben es
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