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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst
Autoren: Roel Verschueren
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schüttelte.
    Seine Tante Filomeen nähte fleißig und geschickt Korsetts und war damit so erfolgreich, dass sie ab und zu mehr als ein Fünf-Franken-Stück in die kleinen, grapschenden Hände drückte. Sie verwendete ausgemustertes Militärmaterial aus dem Ersten Weltkrieg. Sie hatte keine Schwierigkeiten damit, dass ihre gesamte Produktion ausschließlich in Khaki erhältlich war, und es gelang ihr sogar, Khaki als Modefarbe zu etablieren. Ihr einziges Problem war, dass sie ihre Korsetts auch selbst trug, um deren Effekt auf eine aus dem Leim gehende weibliche Linie zu demonstrieren. Dadurch hatte sie beim Essen solche Mühe mit ihrem eingeschnürten Magen, dass sie alle naselang rülpsen musste. Nach jedem laut in die Freiheit entlassenen Rülpser fügte sie unbeteiligt und an niemanden speziell gerichtet hinzu:
    »… und daran ist jedes Wort wahr!«
    Aber das nahm man gern in Kauf. Denn jedes zusätzliche Fünffrankenstück war willkommen, wenn Victor mit der ganzen Bande ins Dorf zog, wo der Geruch von Pommes Frites und Ölkrapfen mit dem Duft von Lakritz und von süßem weiß-rosa Mäusespeck wetteiferte. Er kannte den kleinen, hinter dem Karussell versteckten Laden, wo es für einen Franken so viel Süßigkeiten gab, dass er sie gar nicht aufessen konnte. Das restliche Geld ging schnell für den Autoscooter und die Schießbude drauf, wo man leicht mit der Dorfjugend in Kontakt kam. Die war dazu verurteilt, für immer in diesem Kaff und drum herum zu leben, aber es war interessant, sie anzugucken und vielleicht sogar mit den Mädchen zu flirten. Victor hatte dort, als er etwas älter war, seine erste Zigarette geraucht. Eine Gold-Dollar mit Filter, deren Geschmack er nie mehr vergaß. Und er hatte hinter der Plane des Festzelts zum ersten Mal mit Zunge geküsst. Diesen süßen, milden Geschmack hatte er ebenfalls nie vergessen. Elise trug noch keinen BH , weil es bei ihr noch nichts zu stützen gab, aber er hatte ihre harten, kleinen Brüste durch ihre dünne weiße Bluse gefühlt, und sie war alles andere als zurückhaltend gewesen. Sie ließ Victor nicht mehr los und wollte ihn heiraten, schon gleich nach dem ersten Kuss, aber das fand er etwas voreilig. Er nahm sich allerdings genügend Zeit, sie lange zu küssen, und sein nacktes Bein unter seiner kurzen Hose glitt geschickt an ihren dünnen Oberschenkeln entlang, unter ihren weiten, karierten Faltenrock und auch zwischen ihre Beine. Seine Hände hatten gierig den Weg unter ihr kurzes weißes Spitzenhemd zu ihren kleinen, hervorstehenden Brustwarzen gefunden. Elise machte ihn wild und verwegen, und so versuchte er Dinge, zu denen sie nicht bereit war, die sie ihm aber lieb und sofort wieder verzieh. Er drückte sich aufgeregt an sie, als sie sich mit hochgezogenem Rock auf ihre Zehenspitzen vorlehnte und mit dem rechten Ellbogen versuchte, das Gewehr auf die weißen Kalkhülsen zu richten. Sie schoss gut, verschoss aber viele von seinen mühsam gesammelten Franken. Als sie wiederholte, dass sie ihn heiraten wolle, aber erst in ungefähr zehn Jahren, hatte er gesagt, dass er kurz wegmüsse und später wiederkommen würde. Aber das tat er nicht. Etwa eine Stunde später liefen sie sich zufällig doch noch mal über den Weg, und da ging sie schon wieder Hand in Hand mit einem pickligen Bauernjungen, der sie respektlos hinter sich herschleifte, wie ein neugeborenes Kalb aus dem Stall seiner Großeltern.
    Er hatte ahnungslos mitgelacht und mit nach unten gepresster Stimme mitgejubelt, als einige Dorfjungen mit der ersten nackten Möse prahlten, die sie, im saftigen Gras hinter dem Gemeindesaal liegend, betastet hatten. Er hörte mit angehaltenem Atem den Geschichten über Eroberungen und wechselnde Abenteuer zu und erwarb seinen ersten erotischen Wortschatz, dessen Bedeutung er zu Hause vergebens in den alten Büchern suchte, die hinter Glas im Bibliotheksschrank seines Vaters standen. Er verstand erst viel später, wie spannend das alles war, und beschloss, dass er schneller älter werden wollte. Er wollte verstehen, worüber sie sprachen, fühlen, was sie so in Ekstase versetzte, die Jungen in diesem unansehnlichen, kleinen Dorf, irgendwo zwischen zwei vergessenen Städten.
    Victor liebte den Bauernhof, die wilden Fahrten im hellblauen verschlissenen Opel Admiral mit offenem Dach und die Besuche bei seinen Großeltern. Er kam immer gern dorthin, aber er ging auch immer gerne wieder weg. Weg von allem, was erstarrt war. Eine Kuh war eine Kuh und war am
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