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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst
Autoren: Roel Verschueren
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eine große Nachkommenschaft ein Segen, weil die Kirche große Familien liebte. Die Rekrutierung und Einverleibung einzelner Familienmitglieder für die gute Sache war für viele Orden und Klöster eine Selbstverständlichkeit.
    So wurde Yvonne, eine von Alberts Schwestern, zwangsläufig Nonne. Sozusagen als familiärer Beitrag für Rom und das Christentum, das tief verwurzelt und unausrottbar ein Bestandteil von allem war, was mit der Bauernfamilie und dem Hof zu tun hatte. Sie gab ihre Familie auf, ihre Freunde und Bekannten, das Leben, das sie bis dahin gekannt hatte.
    Sie nahm auch einen anderen Namen an, einen, der etwas heiliger klang als der, den sie von ihren Eltern bekommen hatte. Der neue Name sollte für den Bruch mit der Vergangenheit und für einen jungfräulichen Neubeginn im Kloster sorgen. Sie wurde zum heißen Draht zwischen der Familie und Gott, und das war damals für alle ein beruhigender Gedanke. Eine Garantie beständiger Gottesfurcht zu Hause und sozialer Anerkennung im Dorf. Die anderen Kinder arbeiteten hart, um den kleinen Bauernhof in Gang zu halten. Victors Großmutter hätte lieber zwei Berufene in der Familie gehabt, weil das nun einmal der Durchschnitt in einer zehnköpfigen Familie war. Und es wären zwei Münder weniger zu füttern, zwei Körper weniger zu bekleiden gewesen und zwei Seelen weniger, um die man sich sorgen musste. Aber es blieb bei der einen, Yvonne.
    Sein Onkel Charles, ein kleiner, gedrungener Zimmermann, dessen Kopf unmittelbar in die Brust überging, war ihm der liebste von allen Onkeln. Sich selbst war Charles übrigens auch der Liebste. Wenn er einen Witz erzählen oder eine seiner schweinischen Bemerkungen machen wollte, dann lachte er schon im Voraus so laut darüber, dass alle Neffen und Nichten übertrieben laut mitlachen mussten und riefen, wie gut der Witz doch sei, noch bevor er ihn der Familie unterhaltsam und ausführlich zum Besten gegeben hatte.
    Er hatte sein Haus, zwei Straßen weiter, »eigenhändig, ganz allein erbaut«, und dieses Eigenhändig-ganz-allein-Erbaut wurde bei jedem Besuch unterstrichen und mit Ausrufezeichen wiederholt. Er hatte noch all seine Finger, aber es fehlten ihm die vier oberen Schneidezähne. Die waren bei einer der jährlichen Karfreitagsprozessionen im Dorf geopfert worden. Das tonnenschwere Kreuz Christi – das Onkel Charles »eigenhändig, ganz allein« zusammengezimmert hatte – war dem viel zu schwachen »Jesus« unglücklicherweise aus den Armen geglitten und hatte ihn direkt im Gesicht getroffen. Er ging als zweiter, noch zu kreuzigender Sünder, gekleidet in ein weißes Laken, auf bleichen, nackten Füßen zu nah hinter dem Herrn her. Als er schließlich am Kreuz hing – was eigentlich mehr ein Stehen als ein Hängen war –, fand es sein Freund Christus ungerecht, dass Charles’ Laken über und über mit echtem Blut getränkt war, während er sich mit Tomatenpüree begnügen musste. Die ästhetische Wiederherstellung des Gebisses blieb auf der Strecke; denn als gern gesehener Gast im Café Het Volkshuis wurde Charles von den andern Gästen immer eingeladen, weil er sein Glas Jenever zwischen die beiden freistehenden Eckzähne klemmen und ohne Zuhilfenahme der Hände in einem Schluck austrinken konnte.
    Victor hörte seinen Geschichten stundenlang zu. Außer während der Kirmes im Dorf, in dem sein Großvater Bürgermeister war. Dann durfte er mit seinen Cousins und Cousinen im ganzen Haus die Erwachsenen abklappern, um von jedem fünf Franken für Süßigkeiten und den Zeitvertreib auf dem Kirchplatz zu ergattern. Er wusste, dass er von seiner Patentante einen blauen Zwanzig-Franken-Schein bekommen würde. Den fischte sie aus ihrer Packung Tigra, messerscharf achtmal gefaltet, damit er unter der Fünf-Franken-Münze nicht auffallen würde. Sechzehn Onkel und Tanten. Eigentlich waren es nur fünfzehn. Die Tante Nonne hatte schließlich nichts anderes zu verteilen als ihren Segen, ständige Gebete und von Gott gesandten guten Rat. Sie lief pausenlos von Neffen zu Nichten, in der Hoffnung, Zuhörer für eine kurze Predigt über die wahren Werte des Lebens und über die Trivialität der Kirmes zu finden. Ihrem Vorschlag, einen Teil des gesammelten Kirmesgeldes im Opferstock der Kirche zu deponieren, bevor man zum Süßigkeitenladen ging, hatte, soweit er sich erinnerte, niemals jemand Gehör geschenkt. Vor allem weil seine Tante Maaike, hinter dem Rücken der Tante Nonne, so fest sie konnte den Kopf
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