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Weißes Gift im Nachtexpreß

Weißes Gift im Nachtexpreß

Titel: Weißes Gift im Nachtexpreß
Autoren: Stefan Wolf
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1. Glatteis
     
    Für diese Nacht, an einem Freitag Ende Februar,
war Frost angesagt. Jetzt, am Abend, orgelte eisiger Wind durch die Straßen. Er
traf Tim von vorn, blähte den Blouson auf und machte rote Hände am
Rennrad-Lenker.
    Sauglatt! dachte der TKKG-Häuptling,
und er meinte das spiegelnde Eis auf der Fahrbahn.
    Auf Feldern und Wiesen vor der Stadt
war der Schnee schon geschmolzen. Und auf den vielbefahrenen Straßen, den
Hauptverkehrsadern, gab’s auch kein Eis mehr. Millionenfach hatten Autoreifen
den letzten Knirschkrümel wegradiert.
    Aber in Nebenstraßen — und vor allem in
den vornehmen, verkehrsberuhigten Gegenden — sah’s aus wie auf der Eisbahn:
eisig, glatt, spiegelnd. Nur die Gehsteige waren voller ausgestreutem Splitt,
um den Boden stumpf zu machen für die Fußgänger. Bekanntlich ist das Streuen
Vorschrift für jeden Hauseigentümer, und zwar entlang seines Gartenzauns. Denn
schließlich ist nicht jedermann Akrobat oder Seiltänzer; und welche Oma nimmt
schon Schlittschuhe mit, wenn sie einkaufen geht.
    Eichen-Allee. Na, endlich!
    Der Wind stach wie mit Nadeln. Außerdem
spürte Tim ein ziemlich dringendes Bedürfnis. Fünf Tassen Tee hatte er vorhin
getrunken und seitdem keine Toilette gesehen. Jetzt fuhr er zu den Sauerlichs,
den reichen Eltern von Klößchen. Dort war er zu einem Festessen eingeladen, das
die Sauerlichs zu Ehren ihres Besuchs gaben. Entfernte Verwandte waren
angereist, und zwar zu dritt: die Familie Streiwitz aus Dresden. Nette Leute,
wie Klößchen meinte. Deshalb ließen sich die Sauerlichs nicht lumpen. Und
Klößchen lud seine Freunde ein: Tim, Gaby und Karl.
    Zwiiitsch... glitschte das Vorderrad
weg.
    Tim mußte abspringen.
    Sauglatt, wie gesagt.
    Kaum landeten die Turnschuh-Sohlen auf
dem Eis — schon saß Tim auf dem Hosenboden.
    Niemand hat’s gesehen, dachte der
TKKG-Häuptling. Ist ja blamabel.
    Er wischte die Sitzfläche seiner
Festtags-Jeans ab, saß wieder auf und fuhr weiter, vorsichtig diesmal.
    Es wurde dunkel. Die schönen
Kandelaber-Laternen gossen creme-farbenes Licht aus. Aber das reichte nur für
die nächste Umgebung.
    Tim sah sein Ziel: das große Anwesen
der Sauerlichs, die Super-Villa des Schokoladen-Fabrikanten, die Einfahrt und
den Jaguar vor der Garage.
    Erleuchtete Fenster, am Haus brannten
Lampen, einladend geöffnet das Tor.
    Nee, dachte Tim, unmöglich! Ich komme
an, habe kaum Zeit für Beglotzung und Händchen schütteln, sondern renne gleich
aufs Klo. Das geht nicht.
    Er hielt in Höhe des Nachbargrundstücks
— aber auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Keine Laterne, sondern totale
Düsternis. Das Einfahrt-Tor von Konsul Zwiberinski-Sachalitzke stand offen. Der
Konsul schirmte sich ab mit einer hohen Hecke. Und sein Garten hatte sommers
wie winters nie den Pflegezustand, den die Gärtner-Innung loben würde.
    Was schadet es da..., überlegte Tim.
    An der dunkelsten Stelle lehnte er sein
Stahlroß an die Hecke. Schattengleich verschwand er durchs Tor in den Garten,
wo die Dunkelheit ihn aufsog.
    Stimmen. Gedämpft, ein bißchen ächzend;
und zwar aus der Richtung, aus der Tim gekommen war. Ein langes Psssttt! blies
der Wind zu ihm her. Von einer Stimme, die nach verrosteten Blechbüchsen klang.
Der andere — auch gedämpft — hörte sich bellig und heiser an; jeder Ton schien
ein Wehlaut zu sein.
    Drüben machten sie halt. Sie wisperten.
    Vorsichtig, um nicht auf Knack-Eis zu
treten oder steifgefrorenes Laub, schob sich Tim zum Anfang der Hecke.
    Seine Adleraugen, längst an die
Dunkelheit gewöhnt, sahen fast so deutlich wie ein Infrarot-Zielgerät.
    Tim entdeckte die beiden Gestalten vor
dem übernächsten Nachbarn der Sauerlichs, nahe der Pforte des schmiedeeisernen
Gartenzauns, den innenseitig Nadelsträucher zur Sichtblende ergänzten.
    „Siehst du?“ hörte Tim einen der beiden
zischeln. „Kein Splitt! Kein Kies! Kein Sand! Nichts ist gestreut.“
    Der andere stöhnte. Er saß — nein, hing
— auf dem oberen Rahmenrohr eines windschiefen Tourenrads.
    „Du weißt, was du sagst?“ vergewisserte
sich der mit der Blechbüchsen-Stimme.
    Und Tim erkannte ihn.
    Das war Herbert, ein Penner. Aber nicht
nur Penner. Herbert war auch Gelegenheitsdieb. Und Kampf-Bettler, wie gewisse
Typen sich neuerdings nennen. Gemeint ist: Wer ihnen nicht freiwillig spendet,
den nötigen sie.
    Tim erinnerte sich der fürchterlichen
Ohrfeige, mit der er Herbert verjagt hatte. Der war, kampf-bettelnd, einem alten
Muttchen gefährlich nahe an
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