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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst
Autoren: Roel Verschueren
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Geld zu, und das war es. Ich schrieb Albert einen Brief, in dem ich ihm ankündigte, dass ich schwanger sei. Ich wollte die ganze Situation zwischen ihm und Lucy nicht per Brief besprechen. Beinahe gleichzeitig bekam er einen Brief von Lucy mit der Botschaft, dass sie ein Kind von ihm erwarte.« Martha schnappte nach Luft.
    »Ruhig, trink etwas Wasser«, sagte Victor.
    Martha hörte ihn nicht. »Er beschloss, nach Hause zurückzukehren, und reiste von der Front, unter Vortäuschung eines Anfalls, über Breslau zurück nach Antwerpen. Er bekam im Zug während der Reise tatsächlich eine erneute Nierenkrise, und die Ambulanz brachte ihn vom Bahnhof in Antwerpen in das Militärkrankenhaus. Noch bevor ich wusste, dass er dort lag, wurde er festgenommen und eingesperrt. Ich war in Brüssel untergetaucht, Lucy war bis nach der Entbindung in Namur in einem Kloster und dein Vater war in Mechelen im Gefängnis und dachte, dass er zweimal Vater würde. Sobald ich wusste, dass er im Gefängnis saß, schrieb ich ihm die Wahrheit. Zwei Wochen später flehte er mich per Brief an, für Lucys Kind zu sorgen, und ich versprach ihm, das zu tun. Und dieses Versprechen habe ich mein ganzes Leben lang gehalten.«
    Martha stand vom Tisch auf und nahm ein Taschentuch. Sie trocknete ihre Tränen und ging zum Schreibtisch. Sie kam kurz darauf mit einem Umschlag voller Dokumente wieder und gab Victor einen Brief. »Aus dem Gefängnis«, sagte sie.
    Victor faltete den Brief auf und sah ein Blatt, das aussah, als wäre es aus einem mittelalterlichen Buch herausgerissen worden. Ein liebevoll als Initiale ausgearbeiteter Großbuchstabe mit detailliert gezeichneten und kolorierten Blumen, gefolgt von einem in zierlicher Handschrift geschriebenen Text. Er las den Brief zweimal. Victor fühlte, wie Martha ihn anstarrte. Als er zurückschaute, fragte sie: »Hatte ich eine andere Wahl?«
    Victor legte den Brief hin. »Nein, ich glaube nicht. ›Unsere Zukunft hängt jetzt von deiner Entscheidung ab‹, das lässt nicht viel Spielraum«, sagte Victor.
    Sie sahen sich an, ohne zu sprechen. Victor las den Brief erneut. Er spürte, wie er sich beruhigte. Er legte den Brief hin, stand auf, ging zum Wasserhahn und goss sich ein Glas Wasser ein. Er schaute von der Anrichte zu Martha. Sie saß vorgebeugt am Tisch und bewegte sich nicht. »Möchtest du auch etwas Wasser, Oma?«
    Sie hob die Hand hoch. Victor kam zurück und fragte: »Wie konnte das alles so lange geheim bleiben? Wie konnte ich so alt werden, ohne auch nur irgendetwas davon zu erfahren?«
    Martha wartete, bis er sich wieder ihr gegenüber hingesetzt hatte. Sie war ruhig, wieder unter Kontrolle. »Erstens hatte ich es deinem Vater versprochen. Darum war es für mich heilig. Ich wollte ihn nicht verlieren, Victor, denn ich wusste, wo er hingehen würde und an wen ich ihn verlieren würde.«
    Sie schluckte. »Zweitens, die Nonnen in Namur hatten einen Notar. Der hatte Papiere aufgesetzt, auf Französisch. Sie erklärten uns, dass wir die unterschreiben müssten und dass Luc… dass deine Mutter damit auf ihr Kind verzichtete. Sie durfte niemals Kontakt zu mir aufnehmen, auch nicht zu deinem Vater oder zu dir. Und wir mussten das Kind innerhalb von zwölf Stunden nach der Geburt taufen lassen. Ich bin mit dir und dem Notar zum örtlichen Einwohnermeldeamt gegangen und er hat, mit genug Geld unter dem Tisch, dafür gesorgt, dass du als Kind von mir und deinem Vater eingetragen wurdest. Und das war’s.«
    Victors Handy klingelte. »Lilly, jetzt nicht. Ich rufe dich später zurück, okay? Was? Ich weiß, aber ich kann ihr jetzt keine gute Nacht wünschen, Lilly, erklär ihr bitte d… Hallo, Moira. Nein, Papa kann dich jetzt nicht ins Bett bringen. Papa kann dir auch nicht vorlesen und keinen Kuss geben. Lilly! Lilly … Ich kann jetzt nicht! Okay. Danke. Ich rufe dich noch an.« Victor schaltete sein Handy aus und schaute weiter auf das beleuchtete Display, das nach ein paar Sekunden dunkel wurde.
    »Wenn du mit ihr sprechen möchtest, dann gehe ich kurz weg«, sagte Martha.
    Victor war verwirrt. »Nein … Äh, nein. Alles okay. Ich muss pinkeln.«
    Er ging zur Toilette und dachte nach. Nach zwei Minuten kam er zurück.
    »Oma, ich muss weg.«
    »Jetzt?«
    »Ja, ich muss jetzt weg.«
    »Gehst du zu ihr?«
    Er sah Martha an und seufzte. »Oma, ich muss zu ihr. Wir haben schon so viel Zeit verloren.«
    »Tu, was du nicht lassen kannst. Kommst du noch mal zurück?«
    »Entschuldige. Ich kann nicht
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