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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst
Autoren: Roel Verschueren
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schüttelte. »Ich rufe dich an, wenn ich zu Hause bin.«
    Victor lief zu seinem Hotel, sah, dass die Bar schon zu war, ging wieder nach draußen und weiter in eine Kneipe, deren Geschäftsführer er früher mal gekannt hatte. Der Laden existierte noch, aber die Betreiber waren nicht mehr dieselben. Er zog weiter und landete in einer der kleinsten Bars der Stadt. Er ließ sich an der Theke nieder und bestellte einen Caipirinha. Auf diese Weise war er Lilly am nächsten. Und es gab keinen anderen Ort, an dem er lieber gewesen wäre als bei ihr, mit seinem Kopf auf ihrer Brust. Er schickte ihr eine Nachricht: »Schwerer Tag, heftige Gespräche, notwendig und desillusionierend. Hab dich lieb!«
    Sekunden später bekam er eine Nachricht zurück: »Heftig ist gut! Wir lieben dich sehr. Nimm dir Zeit. Ich höre wohl morgen davon. Wir!«

31
    »Lilly, pass auf, sie rutscht mit dem Kopf voraus!«
    Lilly schaute sich um und sah Moira vorwärts von der Rutsche gleiten.
    »Willkommen zurück in der Gegenwart«, sagte sie. Sie hakte sich bei ihm ein und küsste ihn.
    »Seit wann kann sie das allein?«
    »Seit etwa drei Wochen, Baby.«
    Victor nahm Lilly in seine Arme und wiegte sie sanft hin und her.
    »Schau, Papa, noch mal!«, rief Moira und lief zur Leiter der Rutsche.
    »Du bist wohl auch mit dem Kopf zuerst hinuntergerutscht, aber mit hinter dem Rücken zusammengebundenen Händen. Hat es wehgetan?«, fragte Lilly.
    Er nahm ihre Hand und zog sie mit zu einer Bank. Sie setzten sich nah nebeneinander.
    »Danke. Für die Zeit, die Geduld, die Gespräche …«, sagte Victor.
    »Kein Problem. Ich hoffe, du hast, was du wolltest, obwohl du nicht ganz zufrieden wirkst.«
    »Nach dem Gespräch mit Jozef ist mir klar geworden, dass ich diesen Kampf nicht gewinnen kann.«
    »Ich wusste nicht, dass du ›gewinnen‹ wolltest«, sagte Lilly überrascht. »Ich wusste noch nicht mal, dass das ein Kampf war. Ich dachte immer, du weißt, worauf du dich einlässt.«
    »Es ist nicht alles so rational. Ich habe, warum auch immer, etwas versucht, das nicht geht. Ich habe Monat für Monat, nach jedem gelesenen Buch, nach jedem Gespräch, nach jeder Recherche im Internet etwas mehr verstanden, dass Albert eine Entscheidung getroffen hatte, die praktisch allem widerspricht, woran ich glaube. Ich habe bis zum Ende, sogar jetzt noch, weiter gehofft, dass ich irgendwo einen unausgesprochenen und nicht definierbaren mildernden Umstand finden würde.«
    »Was denn?«
    »Etwas, das mir erklären würde, warum jemand in seiner Zeit, in seinem Alter, mit seiner Ausbildung so etwas getan hat.«
    Lilly stand auf und stellte sich vor ihn. Er lehnte sich auf der Bank zurück und sah sie erwartungsvoll an.
    »Utopischer Idealismus? Eine Lösung für einen gewissen Unfrieden, der Glaube an die Botschaft der Kirche, die Verwirklichung eines Traumes, eine Kompensation für innere Unruhe, eine gewisse Naivität, ein Gefühl von Ohnmacht, extreme Langeweile? Eine Kombination aus all diesen Gründen? Ich kann noch lange so weitermachen, wenn du möchtest«, sagte Lilly. »Aber ich könnte jeden dieser Gründe auch durch einen anderen Satz ersetzen: Aus Enttäuschung über unerfüllte … Und dann habe ich das mögliche Motiv, warum er desertiert sein könnte.«
    Victor verschob seinen Blick von Lilly zu Moira. Sie lief zum x-ten Mal vom Ende der Rutsche zurück zur Leiter. Es fühlte sich an, als ob sein Kopf diese Runden mitdrehte.
    »Ich glaube, dein Problem liegt irgendwo anders, Victor.«
    »Was könnte das denn wohl sein?« Er stand auf und stellte sich vor Lilly hin.
    »Bedingungslose Liebe?«
    Victor ließ seinen Kopf in den Nacken fallen und richtete die Augen zum Himmel.
    »Dein genetisch bestimmtes Konzept funktioniert nicht«, sagte Lilly. »Und wenn es funktioniert, dann richtet es sich gegen dich.«
    »Du bist sehr hart.«
    »Kein Millionstel so hart, wie du zu dir selbst bist. Kannst du nicht einmal versuchen zu akzeptieren, dass ein Mann wie dein Vater, der in einem bestimmten Moment seines Lebens etwas falsch gemacht hat, trotzdem ein Vater sein kann, der dich bedingungslos liebt oder dir vertraut, wenn du dieses Konzept so dringend brauchst? Kannst du für den Bruchteil einer Sekunde versuchen einzusehen, dass deine eigenen Kinder ihre Liebe zu dir nicht verloren oder ihr abgeschworen haben, als du Entscheidungen getroffen hast, die sie nicht begreifen konnten und die für sie erst recht nicht akzeptabel waren?«
    Victor lief zum Ende der Rutsche
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