Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst
Autoren: Roel Verschueren
Vom Netzwerk:
schloss die Augen. Was stand nicht in dieser Akte? Was hatten sie übersehen, weswegen Jozef ihn angerufen hatte? Wo war der Fehler im Zeitablauf, beim militärischen Rang oder bei den Daten, wo war der Fehler? Oder war die Akte nicht vollständig? Er öffnete die Augen und sagte lautlos: »Es fehlen Dokumente.« Nein, es musste etwas anderes sein, aber wichtiger als das, was hier neben ihm auf dem Sitz lag. Die Stewardess brachte das Frühstück. Er verweigerte den Krankenhauskaffee, fragte nach zusätzlichem Wasser und las die Zeitung in der Hoffnung, seine Gedanken zu zerstreuen.
    Nach der Landung schaltete er sein Handy wieder ein und las, dass Jozef in zweiter Reihe am Haupteingang des Sheraton geparkt hatte. Victor nahm den Aufzug zum Flughafenterminal und rannte durch die Halle zur Tür hinaus, überquerte die belebte Ladezone und sah sich um.
    Er hörte ein Auto hupen und sah Jozef halb aussteigen und winken. Victor lief zum Wagen, öffnete die hintere Beifahrertür, warf sein Gepäck auf die Rückbank und gab Jozef die Hand.
    »Danke, Jozef. Danke, dass du mich abholen kommst.«
    »Gern geschehen. Entschuldige, wenn dir alles etwas hektisch vorkommt, aber das ist es auch. Ich dachte, es ist besser, wenn wir keine Zeit verlieren.«
    »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, du machst mich äußerst nervös.«
    »Kann ich verstehen«, sagte Jozef und lenkte den Wagen auf die Autobahn. »Aber du musst mir die Zeit geben, es dir zu erklären, okay?«
    »Gut.«
    »Hör zu. Ich bin dabei, das Appartement meiner Mutter zu verkaufen, weil sie endgültig in Zonneglans aufgenommen werden kann. Sie bekommt dort eine Einzimmerwohnung, alle Pflege, die sie braucht, kurz gesagt, es ist die beste Lösung für sie.«
    »Ich verstehe.«
    »Beim Aufräumen ihrer Wohnung habe ich ihr Tagebuch gefunden. Ich habe es gelesen und dich sofort angerufen. Ich möchte, dass du es jetzt, hier im Auto, liest. Von Anfang bis Ende. Es dauert nicht länger als die Fahrt. Wenn du fertig bist, musst du mir nur sagen, wo ich dich hinbringen soll. Können wir das so machen?«
    »Okay.«
    Jozef griff mit seiner Hand ins Handschuhfach und holte ein dickes Heft heraus. Er gab es Victor. »Keine Angst, es ist nicht ganz vollgeschrieben.«
    Victor fing an zu lesen und suchte eine bequemere Sitzposition. Jozef sah geradeaus und konzentrierte sich auf den lebhaften Verkehr.
    »Hast du Wasser?«, fragte Victor nach einiger Zeit.
    »Rückbank.«
    Victor schaute sich um und sah eine kleine Flasche mit Sprudel.
    Er trank, während er weiter las.
    Jozef sah beim Fahren gelegentlich zu Victor hinüber.
    Victor las. Plötzlich drehte er sich zu Jozef hin. »Was ist …«
    »Zu Ende lesen«, unterbrach Jozef ihn. »Sonst entgehen dir Details.«
    Victor las weiter, aber es fiel ihm schwer. Er blätterte eine Seite zurück, las kleine Passagen erneut, blätterte dann weiter. Er nahm regelmäßig keine Schlucke aus der Flasche. Er wischte mit dem Handrücken eine Träne weg. Nach einer halben Stunde und kurz bevor Jozef entscheiden musste, welche Abfahrt er nehmen sollte, klappte Victor das Tagebuch zu und sah Jozef an. Der nickte nur ein paar Mal, aber er schwieg.
    »Kannst du mich bei meiner Mutter absetzen? Nimm die nächste Abfahrt.«
    Victor schaute aus dem Seitenfenster nach draußen.
    Jozef schwieg.
    »Scheint so, als ob wir mehr gemeinsam hätten als nur Markus«, sagte Victor. »Hier nach rechts und dann, zweihundert Meter weiter, auf der rechten Seite kannst du anhalten, bitte.«
    Victor starrte in die lange Allee. Er sah, dass die Platanen anfingen ihre Farbe zu verlieren und dass das Gras mit großen gelben, herzförmigen Blättern mit langen starken Stielen bedeckt war. Er öffnete das Autofenster und sog gierig ein paar Atemzüge Herbstluft ein. Er spürte, dass sein Herz ab und zu einen Schlag ausließ.
    »Victor, wir sind da.« Jozef wartete. »Victor?«
    »Ich weiß«, sagte Victor. Sein Blick hing an den Bäumen.
    »Möchtest du, dass ich in die Allee hinauffahre?«
    »Nein«, sagte Victor und blieb sitzen.
    »Möchtest du, dass ich mit hineingehe?«
    »Nein, ich glaube, dass ich das allein machen muss.«
    »Möchtest du, dass ich auf dich warte?«
    »Auch nicht. Ich weiß nicht, wie lange das dauern wird. Ich rufe dich an, wenn ich fertig bin. Das behalte ich noch«, sagte Victor und hob das Tagebuch hoch.
    »Wie du möchtest.«
    Victor seufzte und fragte zuletzt, ob Jozef vierhundert Meter weiter fahren könne. »Auf der linken Seite der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher