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Ihr Kriegt Mich Nicht!

Ihr Kriegt Mich Nicht!

Titel: Ihr Kriegt Mich Nicht!
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DER STEIN
    Mik putzte die Zähne und sah sich dabei im Badezimmerspiegel an. Der Spiegel hatte einen Sprung, die eine Spiegelhälfte war ein wenig eingesunken. Vielleicht bloß einen Millimeter, verglichen mit der anderen Hälfte. Doch das genügte, um sein Gesicht in zwei verschobene Hälften zu teilen. Das Gesicht passte irgendwie nicht zusammen. Seine Ohren sahen so groß aus. Doch das lag nicht am Spiegel. Seine Ohren waren groß. Das war allerdings das Einzige, was an ihm groß war. Er war der Kleinste der Klasse. Vielleicht der kleinste Fünftklässler der ganzen Schule.
    »Bei dir wachsen wohl nur die Ohren?«, hatte die Schulschwester so laut gesagt, dass alle andern es hörten.
    Die ganze Klasse hatte aufgereiht dagestanden, um gewogen und gemessen zu werden, und ein Arzt mit kalten Händen hatte unten in den Unterhosen die Hoden der Jungs betastet.
    »Bei dir wachsen wohl nur die Ohren?«
    Bis dahin hatte kein Mensch auf seine Ohren geachtet. Danach hieß er nur noch Flatterohr. Das hatte Andreas sich ausgedacht und in Umlauf gebracht. Und wie komisch ist Flatterohr auf einer Skala von eins bis zehn?
    Ploppy hatte nur einen Hoden. Das verlieh ihm eine gewisse Berühmtheit. Und Stefan, der im Sportunterricht immer blau wurde, hatte einen Herzfehler. Ein Loch zwischen den Kammern, durch welches das Blut hin und her flutschte. Jetzt brauchte er nie mehr am Sportunterricht teilzunehmen. Und Sara hatte über Nacht einen Riesenbusen bekommen.
    »Bei dir wächst wohl bloß der Busen?«, sagte die Schulschwester nicht.
    So was sagte man bloß über Ohren.
    Ploppys Pimmel war auch groß geworden. Lächerlich groß. Das sagte man auch nicht. Und Andreas hatte Haare bekommen.
    Der Rest der Klasse war völlig gesund.
    Mik holte sein Handy heraus. Das Display war gesprungen und die Batterie schon lange tot. Aber das war egal. Er hatte keinen Vertrag und keine SIM-Karte. Aber wer konnte wissen, ob er echt telefonierte oder nur so tat, als ob? Mik hatte eine Geheimnummer und lieh sein Handy niemals aus, so war das. Er konnte Dracula anrufen, er konnte Tengil anrufen. Er konnte Gott anrufen. Er konnte anrufen, wen er wollte.
    Vielleicht sollte er anrufen und sagen, er sei krank? Die Schule war nicht sein Ding. Die Hausaufgaben waren kein Problem, die machte er nämlich nicht. Das Problem waren die vielen Stunden, die man dort eingesperrt war. Sein Klassenzimmer lag im Erdgeschoss und hatte vergitterte Fenster. Weil schon dreimal die Computer der Schule gestohlen worden waren, darum. Das Klassenzimmer war ein Gefängnis. Im Unterricht zeichnete Mik die meiste Zeit. Ob in Mathe, Geografie oder Englisch, er zeichnete. Kein Wunder, dass seine Lehrerin sich Sorgen machte.
     
    In den Pausen konnte man Hockey spielen oder in den Felsen oberhalb des stillgelegten Eisenbahntunnels herumklettern. Das durfte man nicht, weil dort eine Gruppe obdachloser Alkis in Zelten und unter aufgespannten Zeltplanen wohnte. Die Züge fuhren durch die neuen Tunnels jenseits des Industriegebietes. Die alte Tunnelmündung war mit einem Stahltor verriegelt, die Gleisanlage abgebaut, direkt davor war ein von außen nicht einsehbares Niemandsland entstanden. Eltern und Schulleitung hatten alles versucht, damit das Lager entferntwurde. Die Polizei war mehrmals dort gewesen und hatte es abgerissen. Aber die Obdachlosen hatten es bald wieder aufgebaut. Eine dicke Alte gab es dort auch. In ihrem Unterkiefer fehlten die Zähne, und wenn ihr danach war, hockte sie sich vor aller Augen hin und pinkelte.
     
    Es war Pause. Die Jungen standen auf dem Felsen oberhalb der Tunnelmündung und sahen auf das Lager der Obdachlosen hinab. Nur von dort oben konnte man es sehen. Kein Alki ließ sich blicken. Das Lager erinnerte stark an eine Müllhalde. Verdreckte Kleider hingen zum Trocknen an der rostigen Einzäunung, Dosen und Kochtöpfe in den Ästen. Kisten und Zeitungen. Halb verfaulte Zelte, ausgebleichte grüne Planen und ein paar alte Fahrräder.
    »He!«, schrie Mik.
    »He, ihr Alkis!«, schrie Andreas.
    Ploppy und Stefan sammelten Munition, einen ansehnlichen Haufen aus scharfen wurftauglichen Sprengsteinen. Nichts geschah. Ein Windstoß brachte eine Persenning zum Flattern. Styroporstückchen stoben in die Luft. Eine leere Bierdose rollte davon und blieb vor einer Autobatterie liegen.
    »Die schlafen wahrscheinlich«, sagte Ploppy.
    »Es ist doch mitten am Tag«, sagte Stefan.
    »Die vertragen keine Sonne«, sagte Mik. »Die sind nicht von dieser Welt.«
    Er
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