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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst
Autoren: Roel Verschueren
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nicht zu ihr zum Essen komme.«
    Lilly verwuschelte mit einer schnellen Handbewegung Victors Haar. »Geliebter, verrückter Kerl. Sag ihr vor allem, dass du nicht mehr in Belgien bist, dass du gerade Vater geworden bist und dass sie zum dreizehnten Mal Großmutter geworden ist.«

3
    Victor konnte sich gut an das Haus erinnern, in dem sein Vater aufgewachsen war. An seine Großeltern und die Onkel und Tanten, die ihm viel zu nasse Küsse gaben, an das unangenehme Gefühl, wenn sie ihn zwischen ihre üppigen Brüste oder an ihre unrasierten Wangen drückten und ihn immer viel zu langsam wieder losließen. Er war als Kind häufig dort hingefahren, zuerst auf dem Rücksitz des roten DKW und später in dem kleinen schwarzen Melonen-Mercedes 180. Er fuhr mit seinem Vater die sechzig Kilometer über die schmale Schnellstraße, proper gewaschen und gekämmt, zu dem Bauernhof, wo alle auf sie warteten. Victor trug ein weißes Hemd, eine kurze Hose mit Hosenträgern, weiße Strümpfe und Schuhe ohne Schnürsenkel. Eingeklemmt zwischen seinem Bruder und seinen beiden Schwestern, zählte er durch das Rückfenster die Autos und ihre Marken. Er kam immer auf höhere Zahlen als die anderen, denn er zählte weiter, wenn sie schon lange aufgegeben hatten. Oder wenn sie einfach anfingen, den Fahrern zuzuwinken, die begeistert zurückwinkten. Die Fahrt kam ihm kurz vor, besonders wenn die Sonne schien, und die schien in seinen frühen Erinnerungen immer. Sie zählten buchstäblich die Minuten, wenn sie die Schnellstraße verlassen hatten, den kleinen Feldwegen bis zum Bauernhof folgten und durch das grüne, immer offen stehende Gatter fuhren. Sein Vater parkte das Auto links an der Fassade aus roten Backsteinen mit bröckelnden grauen Fugen.
    Victor erinnerte sich an die abgeblätterte Seitentür, direkt neben dem Misthaufen, durch die alle ein- und ausgingen, außer bei Hochzeiten und Beerdigungen. Nur dann wurde die große, doppelte Eingangstür aus fahlem Eichenholz benutzt, die man über einen kurzen, verzierten Pfad aus Schiefersteinen, mitten durch namenlose Blumen und niedrige Pflanzen, erreichte. Er warf die Autotür heftig zu, manchmal schneller, als seine Schwestern aussteigen konnten. Dann rannte er weit vor seinem Vater durch den niedrigen weiß gekalkten Gang neben den Ställen, wo der Gestank von Vieh und mit Urin getränktem Stroh eine völlig andere Welt für ihn eröffnete. Seine schwarzen Lackschuhe waren schnell nass und schmutzig, wenn er sich in den hohen Melkställen die Kühe ansah, die gerade gemolken wurden, und getrennt von ihnen in einer Ecke die jungen Färsen mit ihrem weißen Fell und der nassen schwarzen Schnauze. Irgendjemand drehte immer an der Eismaschine, für das Dessert. Der Geruch nach lauwarmer, roher Milch und frischem Mist hing penetrant im ganzen Haus.
    Victors Vater und seine Onkel spielten schon lange Karten, als der Junge in einem der verschlissenen Sessel einschlief, ohne sich am Rauch filterloser Zigaretten zu stören, am süßlichen Geruch von Likör und Dunkelbier. Das Geschnatter seiner verschwitzten Tanten in ihren geblümten Sonntagskleidern, mit ihren von Wella-Haarlack steifen Frisuren, übertönte das Muhen der bunten Kühe im Stall neben dem immer überheizten Sonntagszimmer.
    Victors Vater, Albert, war der Älteste aus einer zehnköpfigen Familie. Ein Bauernsohn in diesem kleinen, unwichtigen Dorf, das irgendwo zwischen zwei unwichtigen Städten eingeklemmt lag. Er war auf diesem Hof aufgewachsen, wo achtundzwanzig Kühe und acht Schweine für genügend Mist sorgten, um alle Äcker in der Nachbarschaft ebenso fruchtbar wie stinkend zu erhalten.
    Victors Mutter, Martha, stammte ebenfalls aus einer zehnköpfigen Familie. Sie lebte allerdings in der Stadt und war eher bürgerlich aufgewachsen. Sowohl in der Familie seines Vaters als auch in der seiner Mutter gab es zwei Zwillingspaare, die obendrein noch dieselben Namen trugen. Zu jener Zeit wurde schon »für weniger geheiratet«. Er konnte es fast nicht glauben, als Lilly ihm erzählte, dass auch sie aus einer zehnköpfigen Familie stammte, zu der zwei Zwillingspaare gehörten. Wenn sie auch völlig andere Namen trugen als die in den Familien seiner Eltern. Kinder wurden früher noch als Kapital und weniger als Kostenfaktor betrachtet. Eine große Familie war eine Investition, so hatte sein Großvater ihm einmal erzählt, eine Sicherheit für die Nachfolge auf dem Bauernhof. Und für Eltern, die für die Kirche schwärmten, war
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