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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen
Autoren: Sándor Márai
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– die Folge war natürlich immer die gleiche: ich stürzte.
    Bei solchen Ausbrüchen versuchte ich, wenn auch nur auf Augenblicke, am Leben der Reichen teilzunehmen; ich äffte ihre Gewohnheiten nach, reiste in ihren Gefilden, speiste in ihren Restaurants, schlief in ihren Betten und rauchte ihre Zigaretten – es war eine klägliche und plumpe Kraftanstrengung, ähnlich dem Benehmen eines Krebskranken, der in eine Bar geht, um zu tanzen, oder der den Eiffelturm besteigt, in der Einbildung, daß es ihm dann bessergehen würde.
    Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich lernte, daß die Armut nicht in meiner Umgebung liegt, sondern in mir selbst, und daß es vor ihr kein Entrinnen gibt. Es dauerte noch länger, bis ich lernte, daß die Atmosphäre der Armut irgendwie den Ausdünstungen einer Schwefelquelle ähnelt, die die Farben der Flora ihrer Umgebung zersetzt und das Chlorophyll der Pflanzen verblassen läßt. Mit den Augen eines Armen gesehen, verwandelt sich die üppigste Landschaft in eine graue und langweilige Gegend – dafür gibt es genügend Beispiele.
    Als mir dies eines Tages zum Bewußtsein kam, verzweifelte ich nicht, empörte mich nicht und trat auch keiner politischen Partei bei, was einem würdelosen und albernen Schritt gleichgekommen wäre. Als Mensch, dem die systematische und philosophische Betrachtung nicht ganz fremd ist, begann ich nachzudenken, denn das kostete ja nichts, und es machte mir zudem noch Freude. Das Resultat dieser Grübelei ist dieses Buch.
    Es hat, ich weiß es nur zu gut, viele Mängel. Manche werden seine Tendenz vielleicht auch als frivol empfinden. Was kann ich dagegen tun? Als Ausgangspunkt meiner Überlegungen wählte ich den Gedanken, daß es in einer Zivilisation, in der vor lauter Lebensnotwendigkeiten niemand mehr Zeit hat zu leben, zweckmäßig wäre, im Rahmen unentgeltlicher staatlicher Unterrichtskurse die Technik der Armut zu lehren, bevor die Menschheit in ebendieser Armut vollkommen verblödet – ein zwar trauriger, aber unausweichlicher Prozeß. Um so trauriger, da man, von einem höheren Standpunkt aus betrachtet, alles lernen kann, so auch die Armut; man vermag mit Fleiß, Talent, Mühe und selbstloser Hingabe die Qualen der Armut zu lindern, und wenn sie auch immer ein schwer erträglicher Zustand bleiben wird, kann man doch mit gewissen Methoden ihre törichte Langeweile abmildern.
    Es fällt mir natürlich nicht ein, solche Dummheiten zu behaupten wie: »Die Welt gleicht einer gedeckten Tafel.« In der Voraussetzung aber, daß der Arme mit den gleichen Sinnen ausgestattet ist wie der Reiche, sie nur nicht richtig zu gebrauchen versteht, habe ich versucht, eine zwar komplizierte, doch für die Armen praktische Methode auszuarbeiten, etwa wie »Mein System«, kleine Lebensübungen, die der Kranke täglich nach dem Aufstehen und vor dem Zubettgehen eine halbe Stunde lang verrichtet, dadurch allmählich die Beweglichkeit des gelähmten Gliedes zurückerlangt und, wenn auch langsam, wieder anfängt zu gehen.
    Das Ergebnis meiner Überlegungen ist diese bescheidene Anleitung, deren Titel auch »Ars vivendi pro pauperibus« lauten könnte – bestimmt ein anmutigerer Titel, da auf lateinisch alles schön klingt; aber da nur wenige ihn verstehen würden, verzichte ich lieber auf diesen Vorteil. Der Titel ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist das Ziel meines Buches, welches ich mit den einfachsten Mitteln zu erreichen suchte.
    Zu guter Letzt nutze ich noch die Gelegenheit, allen jenen zu danken, die mir bei der Verfassung dieses Traktats mit ihren Erfahrungen und Ratschlägen zur Seite gestanden haben. Dies ist bei derlei Abhandlungen üblich, und meist sprechen die Verfasser Museumsdirektoren ihren Dank aus, die nicht so sehr Sachverständige der Armut als vielmehr der ausgestopften Tiere sind.
    Ich persönlich befinde mich schon in einer angenehmeren Lage, da ich an dieser Stelle einem so vornehmen und edlen Autor wie dem heiligen Franziskus von Assisi aus tiefstem Herzen Dank sagen kann, hat er mir doch in seinem Werk »Ehe mit Frau Armut« unschätzbare Anleitungen gegeben und mir vor allem zur wahren Erkenntnis der Armut verholfen. Mit Dank gedenke ich meines Freun-des Dr.   S. T., der sich in diesem Augenblick als ausüben-der Armer in einer kleinen Straße neben der Universität Philadelphia als vortragender Bettler betätigt, und meines einstigen Kollegen im Seminar Z. L., der jetzt als Armer in Rotterdam lebt. Ihren Ratschlägen und Anweisungen verdanke
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