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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen
Autoren: Sándor Márai
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Absingen mittelalterlicher frommer Loblieder meiner Ergriffenheit Ausdruck verliehen über die mir angetane Ehre – über diese einfache, aber nicht abzuleugnende Tatsache, daß er reich ist, ich jedoch arm bin.
    Von derartigen Übertreibungen hielten mich nur die Selbstdisziplin und meine philosophische Erziehung zurück. Die Möglichkeit, daß die geistigen Fähigkeiten des zufällig meinen Weg kreuzenden Reichen sich auf dem Niveau einer Ziege oder eines Mulis bewegen könnten, hat nie die fromme Ergriffenheit abgeschwächt, die ich dem Mythos des Reichtums gegenüber empfand. Nur die wirklich Armen und die wirklich Reichen wissen, was für ein scheinheiliges Getue und welche Lügenhaftigkeit dazu gehört, über »Klassen« zu reden und mit Standes- oder Klassentheorien aufzuwarten, wenn in der ganzen Welt seit Urzeiten nur zweierlei Menschengruppen in vollkommener internationaler Gemeinschaft organisch nebeneinander und gewissermaßen nach göttlichen Gesetzen miteinander verbunden leben: die Reichen und die Armen.
    Auf diesen zwei riesigen Blocks baut sich die menschliche Gesellschaft auf, und über Klassen wagt man nur in Volksversammlungen Reden zu schwingen, und selbst dort nur mit wenig Erfolg. Wie die Erde und das Firmament, so stoßen diese zwei Welten am Horizont aufeinander, in natürlicher Zusammengehörigkeit und dennoch getrennt, jede ein Kosmos für sich.
    Und wenn auch dieselbe Sonne diese zwei Welten beleuchtet, so ist das Spiel von Licht und Schatten in einer Felsenhöhle doch nicht dasselbe wie in der Stratosphäre. So seltsam es auch klingen mag, die Armen haben mit den Reichen keinen Verkehr. Es wäre schwierig, diesen hartnäckigen Hochmut und den Trotz zu analysieren, der sie zurückhält, Einladungen zu Empfängen bei den Gesandtschaften anzunehmen, einem Wohltätigkeitstee oder aber einem Hauseinweihungsfest mit zweihundert Gedecken in einer Prunkvilla beizuwohnen. Die Reichen wissen dies so genau, daß sie die Armen gar nicht erst einladen. Wer hätte in der Rubrik Gesellschaftsnachrichten der Tageszeitungen je gelesen, daß an dem zu Ehren des abberufenen schwedischen Gesandten gegebenen Abendessen der Darmwäscher Stephan Duft samt Gemahlin erschienen wäre, oder daß bei der anläßlich der Ankunft einer ältlichen und mit Schreibmanie behafteten Schriftstellerin vom Kultusminister veranstalteten Teegesellschaft auch der Bremser Emerich Kraft in Begleitung seiner entzückenden Töchter teilgenommen hätte? Die Armen verkehren leider nicht mit den Reichen, und es ist kaum anzunehmen, daß sie diese ebenso hartnäckige wie unbegründete Scheu in absehbarer Zeit überwinden werden.
    Im Umgang der Reichen mit den Armen handelt es sich um einen noch viel komplizierteren Fall, denn die Reichen sind unvermeidlich gezwungen, zeitweise mit den Armen zu verkehren, und zwar aus dem einfachen Grund, daß sie auf jene angewiesen sind, im Gegensatz zu den Armen, die die Reichen weder dringend noch gar täglich brauchen.
    Dank ihres Takts und ihrer gesellschaftlichen Routine werden die Reichen den Armen gegenüber stets den passenden Umgangston und die entsprechenden Umgangsformen finden – aber unser kleines Buch bezweckt ja gar nicht, die Reichen zu belehren, die es sowieso wissen, sondern die Armen über die Kniffe im Verkehr mit anderen zu unterrichten.
    Darum können wir nach Bereinigung der grundlegenden Begriffe sofort auf die Behandlung der eigentlichen Zielsetzung dieses Werks übergehen.

2
    D as Unglück besitzt die praktische Eigenschaft, selbst in der bescheidensten Hütte Platz zu finden. Um unglücklich zu sein, braucht man keine besonderen Fähigkeiten. Das Unglück umgibt das Dasein der Armen wie die Luft die Erdkugel: Ohne sie gibt es tatsächlich kein organisches Leben, wenigstens nicht für die Armen. Die feine, dünne, fast ätherische Substanz des Unglücks durchdringt alle Scheidewände ihrer Existenz und wird zum Bestandteil ihrer Feste, ihrer aufdringlichen und einfältigen Zeremonien, ihrer Sorgen und Tragödien. Daraus ergibt sich, daß für den Armen die alltäglichen Schmerzen des Lebens nie dasselbe bedeuten wie für den Reichen: Die Krankheiten, der materielle Ruin, ein Unfall und zuletzt der Tod gehören zu den normalen Erscheinungen und werden so wenig beachtet wie ein gutes, ausgiebiges Gewitter mit Donner und Blitz in der regnerischen Jahreszeit.
    In den Augen der Reichen erscheint das Unglück gewissermaßen als Attraktion, sie betrachten ihr eigenes Unglück wie
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