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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Autoren: Richard Weisberg
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Vorwort
    Die folgenden Kapitel enthalten eine intensive Auseinandersetzung mit acht bedeutenden Werken moderner Fiktion. In all diesen Texten verwendet eine zentrale Figur – in der Regel der Protagonist – komplexe narrative Strukturen, um relativ einfache, zentrale Realitäten zu umgehen. Diese Protagonisten fühlen sich bei langatmigen Reden sicherer als mit spontaner menschlicher Interaktion. Eine stark formalisierte Sprache vermittelt zwischen ihnen und den Anforderungen des Lebens und schützt sie vor den Quellen positiven, kreativen Handelns, von denen sie sich deswegen aber auch allmählich entfernen. Liebe können sie wegen ihres unvorhersehbaren, nicht verbalen Wesens nicht annehmen, und sie können die ihnen von internen oder externen Faktoren auferlegten Erwartungen sozialer Verantwortung nicht erfüllen.
    Eines der ältesten literarischen Paradigmen, Kränkung und Rache, gibt all diesen modernen Texten Struktur. Aber beginnend mit den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch wird die »Kränkung« auf eine Ausgeburt der überhitzten verbalen Fantasie des Protagonisten reduziert. Mit Untertönen von Hamlet, doch ohne dass ihnen anders als diesem die Notwendigkeit der Rache deutlich wird, setzen diese bahnbrechenden Figuren Wörter nicht nur zur Vermeidung, sondern auch zur Schaffung beunruhigender Realitäten ein. Schahabarim, Flauberts wortgewandter Priester, nährt und reizt Salammbô mit seiner Sprache. Erfüllt sie seine verbalen Fantasien, indem sie handelt, ist er gekränkt und nimmt es ihr übel. Überhaupt gilt für diesen exotischen Roman ganz allgemein, dass inaktive Verbalisierer es schaffen, Krieger und Prinzessinnen zu beherrschen und zu kontrollieren. Doch sogar in ihrer Unterwürfigkeit stellen die weniger wortgewandten Wesen eine Bedrohung für die formalistische Weltsicht des Formulierungskünstlers dar, zum Beispiel, wenn der Mann im Kellerloch die Soldaten und die hübschen Frauen St. Petersburgs beobachtet, beneidet und gleichzeitig verachtet.
    Bei der Entwicklung des modernen Romans aus diesen Texten der frühen 1860er Jahre siedelten Autoren die Wertvorstellungen des Formulierungskünstlers bewusst im Umfeld von Gerichtshöfen und Juristen an. Die Schriftsteller hatten erkannt, dass Heldentum und Religiosität als absolute Werte ausgedient hatten, und sie spürten, dass sich die Legalität zum kontrollierenden Prinzip der modernen Gesellschaft aufschwingen würde. Aber das Recht, nichts weiter als eine relativistische Methode für die Ordnung der Wirklichkeit durch Sprache, bezog gegenüber spontanem Leben dieselbe Stellung wie die philosophischen oder priesterlichen Formen früherer Texte. Der Protagonist als Jurist kam ins Bild, sprach und schrieb und strukturierte schließlich Wirklichkeiten um, die sonst faszinierend und bedrohlich zugleich gewesen wären. Flauberts großer Roman, Die Erziehung des Herzens (1869), steht im Zeichen von Juristen. Und Schuld und Sühne , Dostojewskis auf Aufzeichnungen aus dem Kellerloch folgender Roman spielt die komplementären Perspektiven eines Jurastudenten und eines Juristen gegeneinander – und gegen die Welt – aus. Der junge Raskolnikow geht über das in seinem Artikel »Über das Verbrechen« vorgeschlagene »Neue« hinaus, indem er tatsächlich einen Mord begeht. Dostojewski sollte einen derartigen Eingriff in die übliche Struktur solcher legalistischen Texte nicht mehr wiederholen. Niemals wird der Protagonist als Jurist wieder (und sei es auch rechtswidrig) handeln; nur durch seine Sprache wird er in anderen Verstimmung hervorrufen. Porfiri Petrowitsch, der Jurist, leitet diesen Prozess in Schuld und Sühne ein und zwingt Raskolnikow letzten Endes zum Geständnis und zu moralischer Konformität.
    In Die Brüder Karamasow und Billy Budd , Texten, die in den 1880er Jahren geschrieben oder abgeschlossen wurden, verwendet die nun voll entwickelte beredte Romanfigur die Rechtssprache, um einen nicht so redegewandten, durchschnittlicheren und im Grunde gut angepassten Angeklagten zu manipulieren. Die frühere, private »Rache« wegen vorgestellter »Beleidigungen« so positiver Wesen hatte sich zu einer öffentlichen, gemeinschaftlichen Rache an bedrohlichen, nicht konformen Typen entwickelt. Die Schwierigkeiten juristischer Prognosen, jetzt in Gerichten institutionalisiert, verzerren die Realität und führen dazu, justizielle Verfahren zu vermeiden.
    Die Geschichte des 20. Jahrhunderts bestätigte in tragischer Weise die literarische Sicht
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