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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Autoren: Richard Weisberg
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nach Westen, um sich mit einem zentralen Text, Billy Budd , zu beschäftigen. Alle Stränge der vorliegenden Untersuchung werden in diesem amerikanischen Meisterwerk zusammengeführt. Wenn Kapitän Vere, der die Rollen von Zeuge, Ankläger, Richter und Vollstrecker in sich vereinigt, den Plan ausheckt, den heroischen Billy aufhängen zu lassen, bringt er auch die falsche Verwendung von Wörtern an die Macht und zerstört aus subjektiven Gründen alles, was auf dem Schiff heilig war. Das Ressentiment schafft es durch die Vere und Claggart, seinem konkludenten Verbündeten, gemeinsame schöpferische Tat, sich durchzusetzen und zum Gesetz zu werden. Aber kleine Funken von Ethik und Heroismus überleben in Melvilles Kurzroman nicht anders als in der Geschichte, und ihre Erscheinung macht eine Rehabilitierung sinnhafter Sprache möglich.
    Im vorliegenden Text werden, wo es angebracht ist, Verbindungen zwischen narrativer und tatsächlicher Gewalt hergestellt. Und der Text betont die Notwendigkeit anzuerkennen, dass verbaler Formalismus und reaktiver Hass das Hauptvermächtnis des alten Wertesystems sind, das von ihnen schon immer stillschweigend pervertiert wurde. Die verachteten »Anderen«, die sich gegenüber ihrem eigenen Selbst und der Geschichte weniger ausweichend verhalten, haben die beispiellose Hysterie dieses todgeweihten Systems überlebt. Ihre Alternative wird uns durch die mutige Selbstkasteiung dieser acht Texte anempfohlen.

Danksagung
    Der Autor möchte den Personen und Institutionen danken, die diese deutsche Ausgabe möglich gemacht haben. Von besonderer Bedeutung sind hier meine beiden Kollegen, mit denen ich in Österreich ein Seminar über Recht und Literatur vor deutschen Studenten halten konnte, Professor Bodo Pieroth und Professor Bernhard Schlink. Letzterer hat mich bereits als Mitlehrender an der Cardozo School of Law in New York inspiriert. Der Law School gilt meine tiefe Dankbarkeit für die moralische und finanzielle Unterstützung der Übersetzung und Veröffentlichung. Großer Dank gilt auch meinem Übersetzer, Walter Popp, und meinem Lektor, Philipp Hölzing.
    Schließlich möchte ich meines Bruders gedenken, Professor David B. Weisberg, der das Projekt kannte und es unterstützte, aber die Veröffentlichung leider nicht mehr erleben konnte.
    Richard Weisberg, Sag Harbor ( NY ), August 2012

Einführung
    Mehrere Monate nachdem die französische Polizei 1943 zehntausende Juden zur Deportation nach dem Osten zusammengetrieben hatte, veröffentlichte ein Pariser Anwalt namens Joseph Haennig eine akademische Abhandlung über die Definition des Juden (Auszüge siehe Anhang, S. 269). Anhand mehrerer wohlwollend zitierter Gerichtsentscheidungen der Nazis legte Haennig eine geschickte Argumentation dafür vor, dass die Beweislast für das Judesein im zweifelhaften Fall einer Person mit nur zwei jüdischen Großeltern beim Staat verbleiben sollte. Manche französische Gerichte unter Vichy hatten die Deutschen durch ihre entschlossene Anwendung der Rassengesetze bereits übertroffen. Haennig setzte seine anwaltlichen Talente dafür ein, nicht die Existenz derartiger Gesetze anzugreifen, sondern für ihre »humane« Interpretation zu plädieren.
    Joseph Haennig war alles andere als ein Schurke. Er war einer von den vielen Anwälten, die in aller Nüchternheit über die schicksalhaften Rechtsfragen einer Definition von Rasse diskutierten. Zu einem früheren Zeitpunkt der Besetzung Frankreichs hatte er einen Juden verteidigt, dem wegen eines »politischen« Verbrechens Haft und Tod drohten. Jetzt hoffte er, die Last von »Personen mit Mischlingsblut« zu erleichtern, die versuchten, den rechtlichen Status von Juden zu vermeiden. Doch wirft Haennigs Verhalten, wenn man es paradigmatisch versteht, erschreckende Fragen auf, deren Lösung potenziell noch katastrophaler wäre als die der von den Anführern von Unterdrückung und Rassismus in Europa gestellten. Denn in Joseph Haennigs Vermeidung zentraler Realitäten, in seiner Bereitschaft, Sprache im Dienst eines rechtlichen Überbaus zu schaffen, von dem er wusste, dass dieser soeben Tausende von Franzosen in Lager gefegt hatte, legte er dasselbe fatale ausweichende Verhalten an den Tag, durch das sich die breitere Kultur und deren Institutionen auszeichneten. Gute und schlechte Menschen hatten das Unakzeptable akzeptiert. Wörter, die einst schrill und propagandistisch klangen, förderten das monströse Vorhaben ohne großes Aufheben, indem sie es
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